Zarathustras miese Kaschemme

Die Zeit ist reif

Es zwickte am Hals, in den Achselhöhlen, in den Kniekehlen, ja sogar am Arschloch. Was einen auf hundertachtzig bringt, ist das Blut, das nicht aufhören will, aus der offenen Wunde zu laufen, an der vorher noch ein Pickel saß. Ich mochte es nicht, hier auf dem kalten Stein zu sitzen und darauf zu warten, einen Grund zu finden, aufzustehen. Der Grund sollte zu mir kommen und wenige Sekunden, nachdem dieser Gedanke verflogen war, hörte ich in meiner Wohnung ein Telefon schellen. Ich sprang auf, warf mir den Schlüssel von einer in die andere Hand und schloss hastig auf, ohne dabei zu vergessen, die Lautstärke so niedrig es nur ging zu halten. Ich wollte niemanden aufwecken. Keiner musste mich so sehen. Ich lief durch in mein Zimmer und ohne das Licht einzuschalten rannte ich durch bis zum Ende des Raums, wo der Schreibtisch stand. Der Monitor des Computers war noch eingeschaltet und warf so ein wenig Licht auf den Telefonapparat, der schräg daneben stand. Die Schweine waren allerdings verschwunden. Bevor es wieder klingeln konnte, riss ich den Hörer hoch und drückte ihn mir an den Kopf, so dass ein Flüstern genügen würde.

„Hallo?“

„Wo bleibst du?“, fragte eine vertraute männliche Stimme.

„Wo…bleiben? Wer ist da?“

„Ich bin’s.“

Er nannte seinen Namen nicht und es war auch gar nicht nötig. Ich hatte ihn seit zwei Wochen nicht mehr gesehen und schon bemerkte ich einen fremden Ton in dieser Stimme. So schnell vergisst man.

„Sollte ich vorbei kommen?“

„Schon vor einer Stunde.“

„Ich glaub, das war der Grund warum ich überhaupt raus gegangen war“, sagte ich, aber gar nicht in den Hörer.

„Was?“

„Schon gut. Ich bin gleich bei dir, lass mich kurz duschen oder ein Bad nehmen. Ich stink’ wie ein Klärwerk.“

„Mach dir darüber keine Sorgen. Du kannst hier duschen.“

„Nein, danke. Ich weiß, dass du in deine Dusche pinkelst und manchmal auch reingekotzt hast.“

„Was?“

„Schon okay. Ich bin in zwanzig Minuten drüben. Wir müssen uns sowieso mal unterhalten.“

Ein Seufzen erklang am anderen Ende, dann wurde aufgelegt. Ich holte mein Feuerzeug aus der Tasche und entzündete es. Mir war die Kerze hinter mir auf dem kleinen Tisch aufgefallen, der in der Mitte des Raumes stand. Der Raum wurde erhellt, sehr subtil zwar, aber mehr Licht sollte vorerst vermieden werden. Ich ging ins Bad, duschte, kämmte mir die Haare. Es roch besser und ich hatte wieder Hunger. Irgendwohin was essen wäre nicht schlecht, das Dumme an der Sache war, dass ich kein Geld mehr hatte. Ich zog mir die Schuhe an, steckte mir Zigaretten und Feuerzeug ein und verschwand wieder. Die Stille und die Dunkelheit, die draußen herrschten, gaben einem so viel Raum zum Denken, dass man entweder verrückt oder einfach nur melancholisch werden wurde, was dem Verstand auch nicht sonderlich gut tat. Doch ich versuchte, an etwas anderes zu denken. Ich dachte wieder an die vergangenen Tage, doch was wirklich passiert war, konnte nicht deutlich gemacht werden. Menschen waren gestorben, doch von Trauer konnte keine Rede sein. Es konnte niemand gewesen sein, der mir nahe stand. Ein Mädchen war verschwunden. Schwermut machte sich breit, vielleicht ein Zeichen, dass ich mich verliebt hatte, aber wie kann man das schon genau feststellen?

Oben in der Küche brannte noch Licht. Wenige Zimmer waren noch beleuchtet, obwohl es erst kurz nach elf Uhr war. Ich blieb einige Schritte vor der Haustür stehen und blickte hinauf zum Licht, hoffte einen Blick auf ihn erhaschen zu können. Hoffte inständig, dass er mich hier unten sehen würde, den Summer aktivieren würde und mich herein ließe. Immer wieder kreuzte ein Schatten die Scheibe, doch die Person dazu näherte sich nicht. Ich wollte niemanden aufwecken, wusste ich doch, dass ein kleines Kind da oben wohlbehütet, eingepackt in weiche Baumwolldecken in einem kleinen Bettchen schläft und von einem zwanzig Zentimeter Teddybär, der daneben saß, bewacht wurde. Ich sollte mir eine Zigarette anstecken. Immer wenn man im Winter verzweifelt auf die bescheuerte Straßenbahn wartet, kommt sie in dem Moment um die Ecke gefahren, nachdem man die Kippe angezündet hat. Ich konnte mir allerdings diesmal den Aufwand sparen. Noch in Gedanken an den Winter, summte es an der Haustür. Ich sprang ihr entgegen und fiel gradewegs in den Hausflur hinein. Das Licht war aus und auch der Schalter konnte an diesem Dilemma nichts ändern. Schuhpaare hatten sich vor den Wohnungstüren verteilt und warteten nur darauf, dass man darüber stolpert und sich beim Sturz die Treppen runter das Genick brach. Vorsichtig nahm ich eine Stufe nach der anderen, mit meiner Hand immer am Geländer war es wie der Besuch im begehbaren Horrorkabinett auf dem Rummel. Völlige Dunkelheit, dumpfe Laute von den Besuchern, die einem vorangingen und dann die Schrecksekunde, wenn der Typ mit dem Draculakostüm hinter der Pappwand hervorspringt. Licht brach die Finsternis auf der Etage, auf der ich mich gerade befand und das Knarren einer alten Tür hallte durch den Hausflur. Eine alte Frau, ihre grauen zottigen Haare mit Nadeln wie die Teufelsgabeln im Heuhaufen hochgesteckt und ein misstrauischer Gesichtsausdruck, dem ein fragender folgte.

„Haben die das Licht noch nicht repariert?“, fragte sie.

„Nein.“

„Gehen Sie noch eins höher?“

„Ja.“

„Warten sie, ich komme mit, die Wäsche muss schon trocken sein.“

Sie folgte mir bis vor die Wohnungstür, die offen stand. Er spähte hinaus, sah uns beide vor seiner Tür stehen und grinste.

„Sie hat mich nur nen Stück begleitet. Das Licht geht nicht.“

„Ich weiß“, sagte er und bat mich hinein. Die Alte verschwand im Dunkeln, träge und schon jetzt erschöpft. Noch im Flur seiner Wohnung hörte ich die Stahltür des Dachbodens über den Boden scharren.

„Setz dich.“ Er deutete auf sein Wohnzimmer. Die wenigen Dinge, die so herumstanden, erinnerten mich irgendwie an die Trauerkränze der frischen Grabstätte. Ein blasser Lichtschein der Stehlampe fiel in den Raum und das grelle Licht der Straßenlaterne, die direkt hinter seinem Fenster stand, schien hinter den dicken dunklen Vorhängen gefangen zu sein. Er verbrachte eine Weile in der Küche, spülte ein wenig Geschirr und nahm dann auf dem schmalen Sofa Platz, dass mir so ungemütlich schien, wie der alte Ledersessel, auf dem ich saß. Es stank nach Politur und knarrte, wenn man sich bewegte und ich musste mich ständig bewegen, denn mein Rücken fing an weh zu tun. Der Schmerz schien mich besser als alles andere wach halten zu können. Hatte wahrscheinlich zuviel auf irgendwelchen Sitzschalen in der U-Bahn Station gelegen. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich einen Großteil der vergangenen Nächte im Freien verbracht hatte. Er streckte seine Beine auf dem Sofa aus, stützte sich auf seinem Arm ab, der aber immer wieder von der Lehne rutschte. Ein Unbehagen lag in der Luft. Dieses Sofa hatte ich vorher schon mal gesehen. Es stand vor wenigen Tagen an der Ecke bei dem ganzen anderen Sperrmüll. Vielleicht hatte ich selbst schon mal drauf gelegen. Das würde natürlich die Rückenschmerzen erklären.

„Hast du Bier da?“, fragte ich und bot ihm eine meiner letzten beiden Zigaretten an. Er nahm sie und rauchte. Die letzte war für mich.

„Ich schau gleich mal in der Küche“, sagte er und streckte seine Knochen auf dem Sofa.

„Vielleicht sollte ich aufhören zu rauchen“, sagte ich und blickte wehleidig auf die leere Pappschachtel herab. Er holte derweilen einen Aschenbecher aus seinem kleinen Zeitungsständer hervor und setzte sich dann wieder aufrecht hin. Nachdenklich kratzte er sich am Kinn und sah zu mir rüber. „Weißt du….“

„Ja?“

„Ach, schon gut.“ Er legte sich wieder hin.

„Ich kann heute nicht lange machen. Muss mich morgen mal wieder in der Schule blicken lassen“, sagte ich.

„Was?“

Der Qualm verteilte sich im Zimmer. Vielleicht sollten wir ein Fenster öffnen.

„Passivrauchen ist für Säuglinge enorm schädlich, dass brauch’ ich dir jawohl nicht zu erzählen, oder?“ Ich musste an die kleinen, noch so frischen Lungen in diesem winzigen Körper denken.

„Was willst du in der Schule?“

„Das weiß ich auch nicht so genau, aber irgendwann muss ich ja mal wieder hin, oder nicht?“

„Du gehst wieder zur Schule?“ Verwundert stand er auf und begab sich in die Küche.

„Ich war ne ganze Weile nicht da. Mich wundert’s, dass die noch gar nicht angerufen haben.“

„Was willst du in deinem Alter noch in der Schule?“ kam es aus der Küche. „Hab nur noch zwei Bier da. Vielleicht sollten wir auch aufhören zu trinken, jetzt wo der Kühlschrank auch noch leer ist.“ Ich hörte die Flaschen gegeneinander schlagen.

„Ja, vielleicht sollten wir auch aufhören zu leben, jetzt wo wir zwei nur noch übrig sind.“, sagte ich lächelnd und nahm eine Flasche in Empfang.

„Aber du wolltest ja sowieso bald los.“ Er machte sich wieder auf dem Sofa breit.

„Ja, verstehst du, die Schule.“

„Wieso gehst du wieder zur Schule. Arbeitest du nicht mehr?“

„Arbeit?“

„Du hattest doch diesen Job auf dem Friedhof.“

„Auf dem Friedhof?“ Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Nie und nimmer würde ich auf dem Friedhof arbeiten. Was soll das auch? Wenn all deine Kunden tot sind, wenn gibt es dann noch zufrieden zu stellen? Seine Hand umklammerte die Flasche. Sachte nahm der Druck in seinen Gelenken zu, als er die Pulle an seinen Mund führte und ich die kleinen Narben und die knittrige Haut auf seinem Handrücken sah. Doch es war das eingefallene graue Gesicht eines Mannes in den späten 40ern, das mich erschaudern ließ.

Es klopfte an der Tür. Unglaublich agil schien der alte Mann zu sein, der jetzt vor mir aufsprang und zur Tür ging. Mit freudiger Miene öffnete er die Tür und bat die alte Frau hinein. Sie trug ein weißes Nachthemd mit sich, hatte sich ihre ausgetretenen, nachgemachten italienischen Designerschuhe über ihre mit Hornhaut übersäten Füße gezogen und ihren beigen Mantel angelegt. Beide traten, sie bei ihm untergehakt ins Wohnzimmer und schauten auf mich herab. Sie legte ihre Hand auf meine und kein Unterschied war zu erkennen. Die Kälte schlich sich wieder in meine Eingeweide ein und wuchs dort wie ein Embryo im Leib der Mutter. Nur um einiges schneller.

„Wir wären jetzt so weit“, sagte er und grinste.