„Hallo?“
„Wo bleibst du?“, fragte eine vertraute männliche Stimme.
„Wo…bleiben? Wer ist da?“
„Ich bin’s.“
Er nannte seinen Namen nicht und es war auch gar nicht nötig. Ich hatte ihn seit zwei Wochen nicht mehr gesehen und schon bemerkte ich einen fremden Ton in dieser Stimme. So schnell vergisst man.
„Sollte ich vorbei kommen?“
„Schon vor einer Stunde.“
„Ich glaub, das war der Grund warum ich überhaupt raus gegangen war“, sagte ich, aber gar nicht in den Hörer.
„Was?“
„Schon gut. Ich bin gleich bei dir, lass mich kurz duschen oder ein Bad nehmen. Ich stink’ wie ein Klärwerk.“
„Mach dir darüber keine Sorgen. Du kannst hier duschen.“
„Nein, danke. Ich weiß, dass du in deine Dusche pinkelst und manchmal auch reingekotzt hast.“
„Was?“
„Schon okay. Ich bin in zwanzig Minuten drüben. Wir müssen uns sowieso mal unterhalten.“
Ein Seufzen erklang am anderen Ende, dann wurde aufgelegt. Ich holte mein Feuerzeug aus der Tasche und entzündete es. Mir war die Kerze hinter mir auf dem kleinen Tisch aufgefallen, der in der Mitte des Raumes stand. Der Raum wurde erhellt, sehr subtil zwar, aber mehr Licht sollte vorerst vermieden werden. Ich ging ins Bad, duschte, kämmte mir die Haare. Es roch besser und ich hatte wieder Hunger. Irgendwohin was essen wäre nicht schlecht, das Dumme an der Sache war, dass ich kein Geld mehr hatte. Ich zog mir die Schuhe an, steckte mir Zigaretten und Feuerzeug ein und verschwand wieder. Die Stille und die Dunkelheit, die draußen herrschten, gaben einem so viel Raum zum Denken, dass man entweder verrückt oder einfach nur melancholisch werden wurde, was dem Verstand auch nicht sonderlich gut tat. Doch ich versuchte, an etwas anderes zu denken. Ich dachte wieder an die vergangenen Tage, doch was wirklich passiert war, konnte nicht deutlich gemacht werden. Menschen waren gestorben, doch von Trauer konnte keine Rede sein. Es konnte niemand gewesen sein, der mir nahe stand. Ein Mädchen war verschwunden. Schwermut machte sich breit, vielleicht ein Zeichen, dass ich mich verliebt hatte, aber wie kann man das schon genau feststellen?
„Haben die das Licht noch nicht repariert?“, fragte sie.
„Nein.“
„Gehen Sie noch eins höher?“
„Ja.“
„Warten sie, ich komme mit, die Wäsche muss schon trocken sein.“
Sie folgte mir bis vor die Wohnungstür, die offen stand. Er spähte hinaus, sah uns beide vor seiner Tür stehen und grinste.
„Sie hat mich nur nen Stück begleitet. Das Licht geht nicht.“
„Ich weiß“, sagte er und bat mich hinein. Die Alte verschwand im Dunkeln, träge und schon jetzt erschöpft. Noch im Flur seiner Wohnung hörte ich die Stahltür des Dachbodens über den Boden scharren.
„Hast du Bier da?“, fragte ich und bot ihm eine meiner letzten beiden Zigaretten an. Er nahm sie und rauchte. Die letzte war für mich.
„Ich schau gleich mal in der Küche“, sagte er und streckte seine Knochen auf dem Sofa.
„Vielleicht sollte ich aufhören zu rauchen“, sagte ich und blickte wehleidig auf die leere Pappschachtel herab. Er holte derweilen einen Aschenbecher aus seinem kleinen Zeitungsständer hervor und setzte sich dann wieder aufrecht hin. Nachdenklich kratzte er sich am Kinn und sah zu mir rüber. „Weißt du….“
„Ja?“
„Ach, schon gut.“ Er legte sich wieder hin.
„Ich kann heute nicht lange machen. Muss mich morgen mal wieder in der Schule blicken lassen“, sagte ich.
„Was?“
Der Qualm verteilte sich im Zimmer. Vielleicht sollten wir ein Fenster öffnen.
„Passivrauchen ist für Säuglinge enorm schädlich, dass brauch’ ich dir jawohl nicht zu erzählen, oder?“ Ich musste an die kleinen, noch so frischen Lungen in diesem winzigen Körper denken.
„Was willst du in der Schule?“
„Das weiß ich auch nicht so genau, aber irgendwann muss ich ja mal wieder hin, oder nicht?“
„Du gehst wieder zur Schule?“ Verwundert stand er auf und begab sich in die Küche.
„Ich war ne ganze Weile nicht da. Mich wundert’s, dass die noch gar nicht angerufen haben.“
„Was willst du in deinem Alter noch in der Schule?“ kam es aus der Küche. „Hab nur noch zwei Bier da. Vielleicht sollten wir auch aufhören zu trinken, jetzt wo der Kühlschrank auch noch leer ist.“ Ich hörte die Flaschen gegeneinander schlagen.
„Ja, vielleicht sollten wir auch aufhören zu leben, jetzt wo wir zwei nur noch übrig sind.“, sagte ich lächelnd und nahm eine Flasche in Empfang.
„Aber du wolltest ja sowieso bald los.“ Er machte sich wieder auf dem Sofa breit.
„Ja, verstehst du, die Schule.“
„Wieso gehst du wieder zur Schule. Arbeitest du nicht mehr?“
„Arbeit?“
„Du hattest doch diesen Job auf dem Friedhof.“
Es klopfte an der Tür. Unglaublich agil schien der alte Mann zu sein, der jetzt vor mir aufsprang und zur Tür ging. Mit freudiger Miene öffnete er die Tür und bat die alte Frau hinein. Sie trug ein weißes Nachthemd mit sich, hatte sich ihre ausgetretenen, nachgemachten italienischen Designerschuhe über ihre mit Hornhaut übersäten Füße gezogen und ihren beigen Mantel angelegt. Beide traten, sie bei ihm untergehakt ins Wohnzimmer und schauten auf mich herab. Sie legte ihre Hand auf meine und kein Unterschied war zu erkennen. Die Kälte schlich sich wieder in meine Eingeweide ein und wuchs dort wie ein Embryo im Leib der Mutter. Nur um einiges schneller.
„Wir wären jetzt so weit“, sagte er und grinste.