Zarathustras miese Kaschemme

Einer kommt und einer geht

Es war an einem Mittwochmorgen. Ich saß auf der schwarzen Ledercouch und lauschte der sanften Stimme der Sekretärin, die keine vier Meter vor mir hinter ihrem Schreibtisch saß und beruhigend in den Hörer sprach. “Er wird sich bei ihnen melden… ja, sicher … vielen Dank … auf Wiederhören.” Ich schaute über den kleinen Zeitungsstapel, der auf dem Tisch lag, unter ihnen der “New Yorker”, ”LA Weekly”, die “New York Times” und die “Los Angeles Times”. Ich las über die Titelblätter: Democracy in Iraq,  Colombia army chief linked to outlaw militias, Broken Bridges, Yankees On The Run. Ich lehnte mich an und kratzte ungeduldig mit den Fingernägeln über die Zähne. Die Sekretärin blickte mit einem nicht überzeugenden Lächeln rüber und tippte dann weiter auf ihrem Notebook herum. Ich lächelte zurück, doch da schaute sie schon lange wieder auf den Bildschirm. Die Bürotür ging auf und ein Mann in den späten 30gern, mit gebügeltem weißen Hemd und einer gepunkteten blau-weißen Krawatte, kam herausgeschossen.

“Francis…? Francis…” Er versuchte sich zu erinnern, machte dann einen großen Schritt auf mich zu und reichte mir die Hand. “Francis Moon”, platzte es schließlich aus ihm heraus. Er zog mich vom Sessel hoch und führte mich in sein Büro. “Keine Anrufe”, rief er der Sekretärin zu und schloss die Tür hinter sich. Ich stand in seinem Büro. Ein heller Raum im dritten Stock mit Ausblick auf eine T-Kreuzung und ein gut besuchtes Café.
”Nehmen Sie doch bitte Platz”, sagte er und ging rüber zur Kaffeemaschine. “Auch einen?”

“Sicher”, sagte ich und nahm auf dem breiten Ledersessel Platz.

“Schwarz oder mit Milch?”

“Milch.”

“Ein oder zwei Würfel Zucker?”

“Fünf.”

Er lachte, warf gleich sechs Stücke rein, verrührte die Dosenmilch darin und reichte mir die Tasse rüber.

“Ich hab mir ihre Texte mal angeschaut”, sagte er halb aus der Tasse schlürfend und zu seinem Bürosessel eilend. Er war eine nervöse Persönlichkeit. Keine zwei Sekunden vergangen ohne ein flinkes Autozwinkern, oder einer raschen Handbewegung.

“Gefällt mir ganz gut.”

“Das freut mich”, sagte ich und nahm vorsichtig einen Schluck. Ich verzog das Gesicht. Der Kaffee war viel zu süß.

“Na, zu süß, nicht? Das wusste ich. Hab zur Vorsicht noch einen nachgeworfen.”

“Danke”, sagte ich halbgrinsend.

“Willst Du einen Neuen?”

“Nein, danke. Es geht schon.”

Ich war gespannt, was aus diesem Gespräch mit Charly Fish werde könnte. Vor zwei Monaten hatte der richtige Francis Moon seinem Magazin eine Kurzgeschichte geschickt und sah dann, dass sie in der aktuellen Ausgabe des “Yap Yap Magazine” nicht zu lesen war. Dann eines Tages rief seine Sekretärin an und bat Francis vorbeizukommen. Was war denn nun an seiner Geschichte, die Charly nicht gut genug für sein “Yap Yap” (ein doch sehr gut angesehenes Literaturmagazin in Autorenkreisen) hielt, wirklich dran?

“Deine Geschichte, genau…” redete er sich aus seinem zu vorigen Gedanken heraus, „die ist schon was.”

“Das ist gut”, antwortete ich in bescheidener Manier und fühlte mich zum ersten Mal hinters Licht geführt.

“Hast Du noch mehr geschrieben?”

“Ja, sicher, aber die Anzeige gab an nur eine Geschichte einzusenden.”

“Ja ja. Ich weiß. Unter die besten hast du es leider nicht geschafft, aber das liegt nicht an der Qualität der Geschichte, sondern an der Art und Weise ihrer Arbeit.”

“Wie meinst du das?”

“Du hast großes Talent…entweder wird daraus noch was oder du bleibst das ewige Talent, verstehst Du?”

Ich blickte hinter ihm durchs Fenster, sah die Straße runter bis zur Kreuzung und beobachtete die Leute die sich im Café trafen, sich unterhielten und lachten. Charly drehte sich zum Fenster.

“Kennst Du den Laden?”

Ich schüttelte den Kopf. “War schon lange nicht mehr in einem Restaurant oder einem Café”, sagte ich und nahm einen Schluck aus meiner Kaffeetasse. Umso näher ich dem Boden kam, umso süßer wurde es. Bald konnte ich den Zucker auf meinen Zähnen knirschen hören.

“Willst Du rüber gehen auf’n Sandwich?” fragte Charly und sah zu mir mit einem hängenden Blick voller Mitleid. Ich kam mir bescheuert vor. Mein Magen hatte schon mehrere Male geknurrt und ich wollte das Angebot einfach nicht annehmen. Das musste ich mir wirklich nicht an tun. Man kann arm sein, aber das doch bitte mit Würde.

Wir gingen runter zur Melrose Ave. und schlenderten an den Shops und Cafés vorbei.

„Los Angeles ist eine mystische Stadt, findest du nicht? Ein modernes Sodom.“

Charly rieb sich die Schweißperlen von der Stirn und blinzelte hoch zur Sonne.

„Ich frage mich, wann das große Beben kommt und uns auffrisst.“

Ich sehnte mich nach einem Glas Wasser oder was noch viel besser wäre, einem kalten Bier. Die Mittagssonne stand am Himmel, glänzte und brannte uns entgegen wie ein Feuerball. Meine Kehle war getrocknet und auf der Zunge lag noch immer der viel zu süße Geschmack des Zuckers aus dem Kaffee.

“Ich hab noch ein paar Dollar, wir sollten uns ein Bier besorgen”, sagte ich und deutete auf ein kleines Lokal, dass an der Ecke auf der anderen Seite lag.

“Fein”, sagte er und drehte sich zum Bordstein um die Straße zu passieren. Wir liefen rüber und nahmen uns einen Tisch für Zwei neben zwei jungen Mädchen draußen vor dem großen Fenster. Bald kam der Kellner und nahm unsere Bestellung auf.

“Weißt Du was, ich hab’s mir anders überlegt. Bring mir doch bitte ne Margarita, schön kühl”, sagte Charly zum Kellner und zeigte dann auf mich.

“Ich nehme ein Bier, was Importiertes, wenn’s geht.”

Der Kellner machte sich seine Notiz und zog ab.

„Du gefällst mir“, sagte er und lächelte.

Ich lächelte zurück.

Er kratzte sich an der Stirn und blickte zur Seite. Er wurde etwas nervös und ich hatte das Gefühl, ich würde wieder in seinem Büro sitzen und wäre sein Angestellter und genau in diesem Moment würde ich gefeuert werden. Dann kamen die Getränke, aber ohne sein Glas zu beachten schaute er daran vorbei und mir direkt in die Augen.

„Das mit deinen Geschichten das wird nichts mehr. Sie sind einfach Scheiße. Versuch am Besten mal anderes. Malst du gerne?“

Fuck you, schoss mir durch den Kopf.

„Sehr gerne“, sagte ich und trank mein Bier in einem Zug leer.

Mit großen Augen verfolgte er wie mein Glas wieder auf dem Tisch platziert wurde. Ich hatte ihn beeindruckt.

„Ich geh dann mal“, sagte ich und verschwand.

Eine Stunde später befand ich mich wieder im Süden der Stadt und trabte langsam den staubigen und steinernen Weg, der sich bei den Schienen am LAX zum Freeway hin lang zog. Eine mageres Abbild einer vergessenen Wüste aus Abfallresten, grauen Steinen und zerplatzten Reifen. Neben mir einmal mehr die Straße, die in ihrer Abgeschiedenheit fast noch mehr an eine Wüste erinnerte. In knapp 40 Minuten würde ich wahrscheinlich bei ihm sein, wäre da nicht dieses unwohle Gefühl in der Magengegend, dass mich dazu veranlasste, möglichst bald eine Toilette aufzusuchen erzeugen. Beim nächsten Motel machte ich halt und klingelte an der Rezeption. Ein alter Koreaner trat hinter der Glasscheibe hervor, seine Augen ganz klein durch die dicken Brillengläser.

“Guten Tag”, begrüßte ich hin und wischte mir den Schweiß von der Stirn. “Ganz schön hei? da draußen”, sagte ich.

“Wollen Sie Zimmer?”

“Ja…ich meine…nein. Ich müsste mal aufs Klo. Haben Sie ne Toilette hier?”

“Nur Mitarbeiter.”

“Ah, okay. Könnte ich vielleicht eines der Zimmer mal kurz benutzen?”

“Sie wollen Zimmer?”

“Ja, aber nicht für lange. Ich müsste nur mal aufs Klo. Ginge das? Ich weiß, das klingt merkwürdig, aber…”

“Sie wollen auf‘s Klo?”

“Ja.”

“Ich kann sie nicht in ein Zimmer lassen für Toilette.”

“Sie können doch im Zimmer auf mich warten. Dauert nicht länger als fünf Minuten.”

“Kann nicht machen.”

“Drei Minuten.”

“Nein. Geht nicht.”

“Okay, was kostet das Zimmer für drei Minuten?”

“Geht nur Tag oder Woche. Ein Tag 33. Eine Woche 151. Plus Steuern.”

“Aber ich….” Bevor ich weiter auf der Toilettendebatte herumritt, genehmigte ich mir einen Blick durch die kleine Empfangshalle. Von einer Halle konnte man nicht sprechen, aber die Wände schienen frisch gestrichen, die Pflanze, die auf dem Ecktisch mit den gepolsterten Stühlen stand war echt und die Klimaanlage in der Ecke funktionierte auch. Ich konnte wenn ich meine beiden Arme ausstreckte die Wände an beiden Seiten berühren und auch wenn der Ort klein und kalt wirkte, konnte von Dreck oder Verfall soweit keine Rede sein.

“Sagten sie 151 für eine Woche? Plus Steuern?”

“151 für Woche. Plus Steuern.”

Mein Lächeln kam zurück und ich unterdrückte die Magenschmerzen.

“Können sie einen Dollar wechseln?”

Es klingelte zweimal, dann nahm er ab.

“Rudy?” fragte ich in den Hörer. Rudy war mein Vermieter und neuerdings Hundezüchter. “Was machen die Dobermänner, Rudy?”

“Das sind Pitbulls, Mann.”

“Hör zu Rudy, ich zieh vielleicht aus.”

“Das sagst du schon seit zwei Monaten. Was ist überhaupt mit den letzten beiden Monatsmieten…?”

“Ich weiß, Rudy. Ich weiß. Ich wollte dir nur Bescheid sagen. Ich komm nachher mal bei dir rum, okay? Sperr nur vorher deine Bullterrier ein.”

“Das sind Pitbulls, Mann.”

Ich hing auf, lies die anderen drei 25 Cent Stücke in meiner Hand klimpern und rechnete mir aus, wie ich die erste Woche überleben könnte. Es wäre nicht allzu schwer. Knapp 215 Dollar sind mir noch geblieben und am Ende der nächsten Woche wäre mein nächster Scheck fällig.

Ich nahm mir ein Zimmer und ruhte mich ein paar Minuten auf dem Bett aus. Es war ein wunderbares Gefühl. Ein altes Radio mit hölzerner Verkleidung stand auf dem kleinen Nachttisch. Ich suchte einen Sender und hörte bald die Stimme Frank Sinatras, die in lieblicher Agonie “In the Wee Small Hours of the Morning” sang. Ich bekam irgendwie gute Laune, auch wenn mich, dass alles auch irgendwie ziemlich runter zog.  Bald würde es wieder anfangen, dass ich mich beschissen fühlte. Die gute Laune würde nicht lange anhalten, da war ich mir sicher. Ich verließ das Zimmer und das Motel und suchte mir einen Schnapsladen. Mit einem Sechserträger Bier und einer Flasche Whiskey ging ich wieder auf mein Zimmer und feierte ein wenig bei melancholischer jazziger Musik. Es war großartig. Alles war vergessen. Die Autorenkarriere, die zahlreichen Geschichten, die Arbeit und das öde Leben. Als es anfing zu dämmern (draußen und in meinem Kopf), machte ich mich auf vors Motel, um noch eine zu rauchen. So gut hatte mir schon lange keine Zigarette mehr geschmeckt. Ich war total benebelt. Alles drehte sich und der Himmel schaute auf mich herab, wie ein großes schwarzes Auge.

“Nicht ein Stern zu sehen”, sagte ich mir und blickte auf. Mir wurde irgendwann kalt und ich ging zurück zur Eingangstür. Ich hörte ein Motorrad die Straße entlang dröhnen und drehte mich noch einmal um. Auf der anderen Seite sah ich einen Obdachlosen den staubigen Weg entlanggehen. Ein trauriges Bild. Er war kaputt, stand kurz vor dem Zerfall. Er war gebeutelt von diesem Leben. Ein langer zerfetzter Mantel, Vollbart im Gesicht und zerrissene Joggingschuhe. So schlimm hatte es mich nicht erwischt. Er hatte die alten Kleider, die dreckige Straße. Ich hatte das warme Bett, den Whiskey und das Bier. Ich verschwand in meinem Zimmer und stellte das Radio wieder an. Immer noch, oder schon wieder Sinatra. Er sang „That’s Life“ und ich musste an den einsamen Menschen denken, der jetzt durch die dunklen Straßen lief.