Zarathustras miese Kaschemme

Gossenkinder

Wir lungerten uns noch sehr spät draußen rum. Frankie und ich balancierten die Bordsteine unserer Straße auf und ab. Zwei verlorene Kinder, er 14 und ich 12, die auf dem dunklen Asphalt irgendwo zwischen unseren Wohnhäusern herumturnten, während die anderen zu Hause waren und fernsahen. Wir wollten nicht nach Hause, vor allem nicht Frankie. Wir hatten seinen Vater besoffen nach Hause kommen sehen und nach trinkfesten Stunden in der Kneipe am Ende der Straße schlug er gerne mal zu. Frankie machte sich um seine Mutter Sorgen, aber er konnte ja an der ganzen Misere sowieso nichts ändern. Bei mir im trauten Heim lag ebenfalls ein überflüssiger Streit in der Luft und so schloss ich mich Frankies Abstinenz an. Wir hatten Glück, dass der Regen ausblieb, die Kälte war erträglich.

„Ich hab nen Hunderter”, sagte Frankie und zog einen Hundert-Mark Schein aus der Gesäßtasche seiner verwaschenen Jeans, die ihm mindestens zwei Nummern zu klein war. Ich war erstaunt. Das war erst das zweite Mal, dass ich einen Hundert-Mark Schein sah.
„Ich hab auch Zigaretten”, sagte er und zog gleich mal vier Selbstgedrehte aus der linken Brusttasche seines gestreiften Hemdes, mit dem er wie einer von der Olsenbande aussah. Auch wenn seine Hose viel zu klein war, gefiel sie mir um einiges besser als meine. Meine sah so billig aus und barg nichts anderes als Sand und Kieselsteine.
„Wo hast du das Geld und die Zigaretten her?”, fragte ich ihn.
„Meinem Vater ausm Schrank geklaut.”
Wir gingen runter zum Imbiss und kauften uns vier Portionen Pommes, sechs Bratwürstchen und jeder zwei Hamburger. Nach den Bratwürstchen waren unsere Mägen voll und wir ließen den Rest auf dem Spielplatz liegen.
„Was jetzt?”, fragte ich und Frankie begann zu überlegen.
„Lass uns ne Flasche Schnaps kaufen”, sagte er und ich willigte sofort ein. Ich hatte vorher noch nie Alkohol getrunken.
Wir gingen runter zur Ecke, wo der Kiosk war. Der Kioskbesitzer war ein alter Witwer, den alle nur „Tasche“ nannten. Wieso wusste ich nicht. Er saß in seinem Kiosk und las wie immer in einem seiner Groschenromane. Ich blickte aufs Titelblatt und sah einen Cowboy, der einen Indianer erschoss.
„Was macht ihr denn so spät noch draußen?”, fragte er.
„Was für meinen Vater kaufen“, antwortetet Frankie.
„Zigaretten?”
„Nee, Weinbrand.”
„Mariacron?”
„Ja, wie immer.”
Tasche legte sein Heft zur Seite und streckte sich, um die Flasche auf dem Holzregal über der Eistruhe zu greifen.
„Das ist sie”, sagte Frankie und legte seine Hände erwartend auf dem Tresen ab. Ich blieb im Hintergrund. Frankie hatte mehr Erfahrung im Einkaufen von Alkohol und Zigaretten. Schon ein paar Mal hatte er für seinen Vater bei Tasche Nachschub geholt. Frankie nahm die Flasche in seine Hand und reichte sie an mich weiter. Da lag sie nun in meinen Händen. Ich wollte aus lauter Neugier sofort einen Schluck nehmen, doch musste erst mal warten, bis Frankie bezahlt hatte und wir in sicherer Umgebung waren.
Frankie legte das Geld auf den Tresen und wir verabschiedeten uns.
„Und sag ihm seine neue Drehmaschine ist hier,” sagte Tasche und Frankie nickte ihm zu. „Mach ich.”

Wir gingen zurück zum Spielplatz, beschattet vom sterbenden Plattenbau westlich von uns gesehen. Tauben hatten sich inzwischen über unser Essen hergemacht. Sie pickten mit ihren Schnäbeln durch die Alufolie und verstreuten die Gurken und Tomaten der beiden Hamburger über den Boden. Frankie lief rüber zum Tisch und schrie sie an. Panisch flogen die Vögel davon. Wir setzen uns auf den Tisch, die Schuhe auf die Bank und schauten uns gründlich um.
„Niemand zu sehen“, sagte ich.
„Gut, mach auf.”
Wir drehten den Verschluss auf und rochen an der Öffnung.
Beide verzogen wir das Gesicht und zögerten zu trinken. Es muss unglaublich auf der Zunge brennen, dachte ich mir.
Frankie nahm einen kleinen Schluck und ließ ihn im Mund. Er versuchte zu Schlucken, doch es fiel ihm sehr schwer.
„Was ist denn?”
„Mmmm mmmm”, murmelte er mit vollem Mund und gab mir die Flasche zurück. Ich nahm den nächsten Schluck und ließ ihn sofort in den Magen wandern. Als Frankie das sah, schluckte er ebenfalls und beide fingen wir an zu husten, während unsere Kehlen wie das Höllenfeuer brannten.
„Einen nehmen wir noch und dann kannste sie nach Hause bringen.“
Ich nahm noch einen Schluck und dann wieder er.
„Schaffst du noch einen?”, fragte er und ich wollte mich nicht geschlagen geben. Ich nahm einen weiteren Schluck und dann war er wieder am Zug.

„Voll der Brennstoff”, sagte er und hechelte. Wir hatten den Flaschenhals leer bekommen und fühlten noch nichts. Ohne was zu sagen, nahm ich noch einen Schluck und hielt die Flasche triumphierend in meiner Hand. Frankie schaute nachdenklich und griff sich die Pulle siegeswillig. Er trank und gab sie wieder zur mir zurück. Mein Rachen war wie taub und ich spürte die Wärme im ganzen Körper. Wir saßen mitten in der Hölle und genossen es. Gossenkinder, die Spaß an Dummheiten hatten.
„Glaubst du wir schaffen die ganze Pulle?”, fragte er und ich trank erneut.
„Wir hätten Kaugummis kaufen sollen.”
Er nahm den nächsten Schluck. Dann wieder ich und dann wieder er. Bald machte uns das Brennen im Hals nicht mehr viel aus und wir setzten die kleinen Schlucke fort. Wir gingen zu den Bäumen rüber und pinkelten. Wieder zurück auf dem Tisch nahmen wir jeder noch einen Schluck.
„Mann, das Zeug ist echt hart”, lallte Frankie und übergab sich kurz darauf. Seine Augen waren ganz glasig und ich fühlte mich, als hätte ich seit Tagen schon nicht mehr geschlafen. Der Alkohol drückte mich runter. Ich sah sein Erbrochenes vor der Bank und schon wurde mir übel.
„Mir ist ganz komisch”, sagte Frankie und konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Ich glaube ich sterbe“, sagte er und fing an zu weinen. Ich legte ihm meine Hand auf den Rücken und versuchte ihn zu beruhigen, aber als ich mir anfing vorzustellen, wie wir beide in den nächsten Minuten das Bewusstsein verlieren würden, um dann kurz vor dem Sandkasten im Dreck zu krepieren kam es mir hoch. Er drehte den Kopf zur Seite, fiel fast vornüber und kotzte neben mir auf die Bank.
„Mann, nicht auf die Bank“, sagte Frankie mit seiner weinerlichen Stimme und schubste mich von der Seite.

Frankie sah auf und deutet mit seinem Zeigefinger auf den Nachthimmel, als plötzlich ein Schuss die Luft zerriss und ihn am Oberschenkel traf. Frankie schrie kurz auf und blickte dann rüber zu den Balkonen des Plattenbaus. Irgendwo da oben stand er. Gerd, 15 Jahre alt und heißer Kandidat fürs Jugendamt. Er schoss auf Tauben, streunende Katzen und hatte nun Frankie und mich ins Visier genommen. Wir verschanzten uns hinter der Bank und warteten auf den nächsten Schuss, der aber nicht mehr kam. Frankie lachte und holte ein Taschentuch hervor. Für ihn war es der Anfang einer verheißungsvollen militärischen Karriere, die knapp 13 Jahre später im Norden Afghanistans durch einen Sprengstoffanschlag beendet wurde. Ich hingegen wurde Grundschullehrer und sah manchmal, wenn meine Schüler auf dem Pausenhof Krieg spielten, noch immer den binnen weniger Sekunden gebastelten Molotov-Cocktail aus Weinbrand in Richtung Plattenbau fliegen, dazu der Ruf von Frankie: „Den Hurensohn werden wir braten.“ Es zauberte stets ein Lächeln in mein Gesicht. Ja, mein Gesicht, das durch den steigenden Alkoholkonsum immer mehr an Ästhetik und Autorität verloren hatte. Zwei Jahre und zwei Monate nach meiner ersten Unterrichtsstunde ging ich in den Entzug. Zurück blieb nichts als ein schlechtes Gewissen, ein toter Freund und ein peinliches Feuer auf dem Rasen vor dem Plattenbau, das gefühlte vier Minuten gebrannt hatte.