Zarathustras miese Kaschemme

In bester Gesellschaft

Die Zeit vergeht so schnell. Saß ich eben noch auf der Bank und las in der Zeitung, gehe ich jetzt schon den schmalen matschigen Weg, der zum Eingangstor des Friedhofs führt entlang. Zur Beerdigung hatte ich es nicht geschafft, weil ich arbeiten musste und zwar auf dem Friedhof. Deshalb hab ich es einfach nicht zu deren Beerdigung geschafft. Ausreden wirken besser, umso lächerlicher sie sind. Was ich nun noch beim Grab der Beiden wollte, konnte ich nicht genau sagen. Zuletzt hatte ich Sascha und Mirko unter der Eiche beim Sportplatz sitzen sehen …

… sie hatten ihre Decken übereinander auf den Rasen gelegt und spielten darauf Mühle. Sascha hatte sich in den frühen Morgenstunden mit dem Neurologen der medizinischen Hochschule getroffen und war nur wenige Minuten nach dem Treffen Tränen überströmt aus dessen Büro gestürmt.

“Gab es denn nichts, was man tun konnte?”

Sascha schüttelte nur den Kopf, zog den Stein nach rechts und musste mit ansehen, wie er zum dritten Mal hintereinander im Begriff war zu verlieren. Ich ging rüber zu ihnen und neckte Sascha mit seinem spitzen weißen Kragen, auf dem man seine schwarzen Fingerabdrücke sehen konnte.

“Wasch dich doch mal“, sagte ich und lachte. Er verzog keine Miene und sammelte seine Steine ein.

“Wenn du sie heute noch sehen solltest, dann sag ihr doch bitte, dass es … .” Sascha stockte, rang nach neuer Luft und sprach weiter “ … wir hatten es beide nicht einfach, dass weiß ich, aber ich konnte es einfach nicht anders machen.”

“Kein Problem, ich sag ihr das“, versicherte ich ihm und zog eine Dose Bier aus seiner Plastiktüte.

“Was machst du eigentlich immer mit deinem Geld?” fragte Mirko und blickte mich schuldzuweisend an.

“Weiß ich auch nicht, aber sollte ich irgendwann mal welches haben, sag ich’s dir.”

Ich öffnete die Dose und nahm gleich gierig einen Schluck. Das tat verdammt gut. Die süffisante Explosion der Geschmacksnerven.

“Schade, dass Malatzek nicht mehr lebt“, sagte ich und holte einen Brief hervor.

“Warum?”

“Das hätte ihn interessiert.”

“Was?”

“Faltan.”

“Was ist mit dem?”

“Er sitzt im Knast.”

“Wo? Wann”?

“Brasilien. Seit zehn Wochen. Hab gehört, er fühlt sich wie neugeboren.”

“Der hatte ja schon immer einen weg. Das lag an der ganzen Scheiße, die der genommen hat. Wenn man dem seine Organe aufschneidet, dann verwelken sämtliche Blumen im Umkreis von zehn Kilometer.”

Mirko lachte und stupste Sascha an der Schulter, doch der blieb weiterhin seiner Gesichtsstarre treu und drehte das Spielbrett um.

“Eine Runde Dame vielleicht?”

“Klar“, sagte Mirko und nahm sich auch ein Bier. Sascha schien heute noch nichts getrunken zu haben. Er war nervös, dass merkte man. Wenn er trank, war er nie nervös.

“Faltan sitzt wirklich ein?” fragte Mirko.

“Ja. Ich hab einen Brief von ihm bekommen.”

“Und was stand drin?”

Ich versuchte mich zwanghaft an auch nur einen Satz zu erinnern, doch es wollte sich einfach nichts offenbaren.

“Weiß nicht mehr. Er schien verdammt glücklich.” Ich holte den Brief aus dem Umschlag.

“Wie glücklich kann man schon werden, in einem Knast da drüben?”
Mirko kippte Bier nach.

Ich wollte gerade anfangen zu lesen, als beide die Partie Dame begannen und ich merkte, wie sehr ihnen das alles am Arsch vorbei ging.

In Gedanken, noch im breiten Schatten des Baumes sitzend, sah ich das frische Grab vor mir liegen. Sascha. An seinem Grab angekommen, holte ich den Brief hervor, klappte das dünne, mit Fettspritzern versehene Papier auf und begann zu lesen, mit einem Auge immer bei der Grabplatte, der so stolz und stramm in einem prachtvollen Weiß vor den Rosen stand.

“Faltan hat niemanden persönlich angeschrieben … er hat diesen Brief mehr als einen Eintrag ins Tagebuch verstanden … na ja … ich fang einfach mal an … mir geht’s hier soweit ganz gut … als sie mich geschnappt hatten, dachte ich, die ganze Welt bricht über mir zusammen und ich würde nie wieder eines eurer Gesichter sehen … nun, ich hab mich geirrt … ich bin mir nicht sicher, was eure Gesichter betrifft, aber eine Welt ist nicht zusammen gebrochen  … nicht im geringsten … ich habe immer gedacht, dass ein Leben ohne Drogen und ohne Sex nicht als solches zu akzeptieren ist … aber … aber … ja … das ist es … es ist besser als alles andere … ich brauch das nicht mehr … hier in einer Zelle, die nicht mal so groß ist wie meine Küche da drüben, ist mir der wahre Sinn des Lebens erst bewußt geworden … ich liebe mein Leben, ich liebe diese Zelle und ich liebe mich … der Weg ist viel mehr das Ziel … mit freundlichen Grüßen … euer Faltan.” Ich faltete das Blatt wieder zusammen und ging einige Schritte weiter vor das Grab von Mirko. Wunderbar, diese markante Marmorplatte mit einer eingemeißelten Madonna, die man nirgends eindrucksvoller als hier auf dem Friedhof sehen konnte. Das alles hatte Mirkos Vater bezahlt. Ich schätze, er dachte wohl, dass es endlich mal an der Zeit war, sich um seinen verlorenen Sohn zu kümmern.

“Das Papier riecht nach Katzenpisse, doch die Tinte schimmert so schön.”, sagte ich und begann wieder vorzulesen.