Archiv für die Kategorie 'Literarische Texte'

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – EPILOG

Sonntag, 26. Juli 2009

Raphael Vogt schließt mit dem Epilog die Veröffentlichung von „Die Tiefe des Beckens – Fragmente einer Novelle“ ab. Der Autor freut sich weiterhin über Ihre Gedanken und Anregungen zum zehnteiligen Text: Raphael Vogt

Epilog

Ich habe mir einen Boxsack gekauft. Er ist beigefarben, etwa einen Meter groß, hat einen Durchmesser von 30 Zentimetern und hängt an einem Balken im Stadel.

Am ersten Abend nach dem Kauf der neuen Errungenschaft habe ich gleich einmal den Schichtleiter vermöbelt. Nun ja, vielmehr wollte ich das tun. Ich habe den Boxsack verfehlt und daraufhin tat es mir fast leid, es überhaupt versucht zu haben. Ich haue nicht gerne auf Menschen ein. Auch nicht virtuell. Mir tut schon der Boxsack leid, … wenn ich ihn treffe. Nach jedem Training – wobei ich nun nicht so übertreiben möchte und mir der Begriff Training für eine meist lediglich nur vier bis fünf Minuten andauernde Einheit als nahezu peinlich erscheint – streichle ich deshalb zum Abschluss stets meinen Boxsack.

Eigentlich mag ich den Schichtleiter schon. Er erinnert mich an meinen eigenen Vater, was mich jedoch angesichts der Tatsache, dass sich bisher keiner – mein leiblicher Erzeuger eingeschlossen – jemals bedeutsam um diese Rolle bemüht hat, auch nicht sonderlich verwundert.

Ja, ich mag den Schichtleiter und das Land seiner ausschweifenden Erzählungen, all seine kuriosen Geschichten sowie seine holzige Art. Auch wenn er sich nicht anständig benehmen kann, so weiß ich jedenfalls, dass ich ihn dahingehend sogar ein wenig beneide, nämlich in dem was er ist oder wenn auch nur, so dennoch unmissverständlich vorgibt, zu sein: Ein Kerl von einem Mann!

„Wir bekommen nun auch so ein Kamera-Überwachungssystem von dem ich dir vor noch gar nicht allzu langer Zeit erzählt habe.“

„Tatsächlich? Na ja, wenn es hilft. An die Überwachung, allerorts, sind wir ja schon gewöhnt,“ erwiderte Theo.

„Das stimmt. Mein Schichtleiter meinte kürzlich, dass übrigens sämtliche Stasileute nahtlos im BND untergekommen seien. Wenn er auch viel erzählt, den lieben langen Tag, da kennt er sich wohl aus.“

„So gesehen wundert mich nichts mehr … in diesem Staat.“

„In diesem Staat? Linkes wie rechtes Gedankengut wird den Leuten weltweit, in Watte verpackt, fein demokratisch serviert. Schau dir nur einmal an, was Putin so getrieben hat! Bush und Rumsfeld haben sämtliche Hitlerbücher gelesen. Da wundert mich auch nichts mehr!“

„Bush? Wer hat ihm vorgelesen?“

Stromausfall.

Ich suche die Streichhölzer. Seit ich das Rauchen aufgegeben habe, ist es mir auch nie mehr gelungen, irgendwo im Haus ein Feuerzeug zu sehen. Sie scheinen allesamt auf nahezu mysteriöse Weise, in Solidarität mit den letzten Zigaretten, verschwunden zu sein.

Verschwunden ist ebenfalls meine Unruhe im Kopf, wenn auch erst seit wenigen Minuten. Ich denke, der orkanartige Wind hat irgendwo eine Stromleitung ausgehebelt oder gar einen ganzen Masten umgeschmissen. Wundern würde mich das nicht. Drei Fenster sind nämlich gleichzeitig zugefallen und zwar in einer Lautstärke, dass es mich schon fast etwas überrascht, dass sie dabei nicht zerbrochen sind. Das Haus ist ein bäuerlicher Altbau, der schätzungsweise an die 120, wenn nicht auch schon 150 Lebensjahre zählt und dessen Fenster nach wie vor aus jeweils zwei dünnen, in bereits erheblich verloderten Holzrahmen angebrachten, Einzelglasscheiben bestehen.

Der Sturm lässt nach, es hat zu regnen begonnen. Die Streichhölzer liegen direkt neben der dicken Kerze auf dem Küchentisch. Mit dem Strom ist meine Unruhe verschwunden. In mir … wie vermutlich auch in den Teichen, Seen und Außenbecken, … hat sich der Schlamm gesetzt.

Ich wollte gerade eben den Computer anschalten und vermutlich noch einiges mehr – aus dem mittlerweile erheblich angewachsenen Repertoire Strom fressender Wohlstandsutensilien … und nun gibt es nicht einmal mehr heißen Kaffee!

Die Kerze flackert lieblich, während es zu nun einsetzendem Donner und Geblitze riesige Tropfen an die Scheiben schleudert.

Ich gehe in die dunkelste Ecke der Wohnung und krame nach vorsichtigem Herantasten mein grünes Notizbuch aus dem Regal.

Nichts geht mehr.

Dass ich mich jemals so frei gefühlt haben könnte, denke ich mir, muss – wenn überhaupt – dann schon sehr lange her sein …

Und ich warte, warte weiterhin, auf irgendetwas, wie schon einmal erwähnt. Ich bin unterwegs und wohin ich will weiß ich immer noch nicht. Alles was ich weiß ist, dass ich dabei bin, mein kleines grünes Notizbuch zu öffnen, um mich weiterhin ausgiebig meinen Illusionen zu widmen. Jeder macht sich ja seine ganz individuellen Illusionen. Ich für meinen Teil ziehe es dabei vor, ein Schriftsteller, Musiker, Regisseur und Künstler zu sein; vielleicht auch nur, um vor mir selbst den Anschein zu wahren, mir all meiner Illusionen bewusst und deren eigener Konstrukteur zu sein.

Joe

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 4
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 5
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 6
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 7
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 8
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 9

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 9

Mittwoch, 17. Juni 2009

VII Black Box

Der Flugschreiber verbirgt sich wohl auf 6000 Metern Tiefe, am Meeresgrund und mit ihm die gesuchten Antworten. Ein Passagierflugzeug bewegt sich durchschnittlich vermutlich auf 10.000 Metern Höhe, zwischen Höhe und Tiefe liegen also 16 Kilometer Unterschied und außerdem ein großer Sturz, ein tragisches Scheitern, ein langer Fall. Ich weiß auch nicht was dieser Gedanke soll. Es liegt wohl an meiner Faszination an Höhe und Tiefe. Muss denn eigentlich unbedingt jemand verantwortlich gemacht werden für den Flugzeugabsturz, das ertrunkene Kind, den Klimawandel, die seltsamen Auswüchse der kapitalistischen Gesellschaft?

Außer – das Schicksal selbst?

Es folgt …

Ein Synapsengewitter:

Ich finde die Aufklärung schießt über ihr Ziel hinaus, wenn daraus zwingend resultiert, dass Gott nicht existieren kann, genauso, wie die sexuelle Aufklärung übers Ziel trifft, wenn sie als Freibrief für beziehungslose Sexualität verstanden werden will. Weswegen veralteter Konservatismus meiner Ansicht nach auch nicht gerade die rettenden Signale zur Erneuerung und Wiederbelebung unserer Gesellschaft sendet. Was wir stattdessen wirklich brauchen? Erst wenn der Eros an Macht und die Macht an Eros verliert – ohne dass beide Pole jedoch sich ineinander aufheben – wird Frieden und eine tiefer gründende Gleichberechtigung möglich sein.

Pole, Polarität, Polarkreis.

Aber Gleichberechtigung ist nicht nur zwischen den Geschlechtern ein großes Thema. Wir als Bewohner der westlichen Hemisphäre z.B. erwarten von China Klimaschutz, während wir uns reichhaltig mit deren Billigware eindecken, die wiederum lediglich aus zwei Gründen so billig ist wie sie ist. Zum einen aufgrund den eben nicht besonders hoch motivierten Zielen im Umwelt- und Klimaschutz und zum zweiten den erschreckend niedrig gehaltenen Bedingungen was grundlegendste Menschenrechte, geschweige denn einer halbwegs gerechten Arbeitsentlohnung betrifft. Es gibt zwischen allen Dingen einen kausalen Zusammenhang der letztlich auch die eigene Person betrifft.

Schuld tragen wir alle, auch wenn es für jeden Einzelnen unterschiedliche Gründe dafür gibt. Der Banker will lieber die Prämie anstatt die Kündigung, der Anleger mehr Geld als nur den Zins vom Sparbuch. Es ist klar, dass dieses Vorhaben von hohem Risiko begleitet wird und im Großen und Ganzen letztlich irgendwann scheitert. Ist der sogenannte „kleine Mann“ wie du und ich denn nicht an Kriegen mitverantwortlich, wenn er – wenn auch womöglich ahnungslos – durch versteckte Aktien an Waffenverkäufen in Dritte-Welt-Länder beteiligt ist, ja sogar zuletzt das ganze Geld selbst, unser aller Geld, mit dem wir Tag ein und Tag aus konsumieren und welches wir zu unserem Wohlstand und unserer Sicherheit auf Banken gehortet haben und von großen Investoren verschoben wird, samt den ursprünglichen Gleichgewichten dieser Welt?

Trotzdem oder auch gerade deswegen sind die großen Firmen teils zu Kapitalmaschinen mutiert, deren Köpfe sich (im globalen Kampf) ihrer selbst entledigen während ihnen gewährt wird im selben Schachzug noch ungestraft den Tresor zu plündern und wofür sie nach ausgiebigster Arbeitsplatz- wie Geldvernichtung noch rechtlichen Rückhalt bekommen. Wo verdammt noch mal ist das ganze Geld hingekommen? Da hat der Kapitalismus wohl schamlos wie ungezügelt die Demokratie unterwandert und macht sich längst deren Politik zu nutze, um selbige mehr und mehr auszuhöhlen und schließlich gar restlos auszuhebeln? Da darf man sich schon fragen, letztlich, ohne damit jetzt irgendeine abgelutschte Verschwörungstheorie heranzitieren zu wollen, wem diese Welt eigentlich gehört. Und wo ist die Black Box, die nach dem Finanzabsturz und anderen persönlichen wie globalen Katastrophen aus den Tiefen des Undurchschaubaren geborgen über all unsere unbeantworteten Fragen Aufschluss geben kann?

Gibt es eine Geborgenheit im Eis? Warme Kälte breitet sich aus. Ein seltsam angenehmer Schmerz. Weiterlesen »

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 8

Mittwoch, 3. Juni 2009

VI Lichter

Diese Lichter nachts, überall, die machen mich ganz sentimental. Und ich frage mich, besonders wenn es draußen stockdunkel ist und die letzten Badegäste nach der Durchsage das Bad verlassen haben, während ich noch einmal eine letzte Kontrollrunde im Freien um die von den sanften Lichtkegeln der Scheinwerfer erleuchteten Becken drehe – liegt dort irgendetwas am Beckengrund? Hat irgendwer irgendetwas beim Schwimmen verloren? Dann suche ich noch ein letztes Mal den Boden der Edelstahlbecken ab, meine Augen wandern, scannen jeden Zentimeter ein, während ich immer wieder verzaubert innehalte und sich mein Blick für einen Augenblick in den geräuschlos tanzenden Luftblasen verliert, welche anmutig ruhig aus der Einströmleiste am Beckengrund aufsteigen. Ja, ich frage mich: Was mag am Grund des Ozeans verborgen sein, am Beckenboden der Weltmeere?

Der Schichtleiter meinte, dass er im Gegensatz zu mir keine Bedenken habe, Kunststücke vom 3-Meter-Turm zu vollbringen: „Ach je, wir ham so Sachen gemacht, seinerzeit. Wir sin aufn Dreimeterturm … und das war uns ja noch nich genug. Dann bin ich Klaus auf die Schultern gehockt und Gabi, damals Azubi, auf meine. Mein Gott … und dann sin ma noch auf ne Leiter gestiegen und alle mit Kopfsprung rein.“

Die Bremer Stadtmusikanten?

Am selben Abend erfuhr ich, dass man Kopfsprünge aus 120 Metern Höhe überleben könne, auch wenn er damit jetzt persönlich noch keine Erfahrungen gemacht habe und dass es Kakteen gibt, die über 40 Meter hoch wachsen würden. Mag sein, dass das stimmt. Was er aber am liebsten sagte und deswegen unentwegt wiederholte, war der Satz: „Das ist heut noch so..“ Die alte Fräs-Maschine, an der er vor 25 Jahren gearbeitet hatte „läuft heute noch“, ein unterirdischer Schwelbrand im Torf brennt seit Jahren unentwegt „… und selbstverständlich auch heute noch!“. Oder Vaters alter Trabband „1983 eigenhändig mit dem Taschenmesser repariert“, der heute noch „einwandfrei“ und „ohne Beanstandung“ fahre …

Herbst.

Auch wenn ich vor kurzem erst – während eines Abendspaziergangs – auf die schwarzbraunen Ackerfurchen blickend, für einen kurzen Moment lang in Erwägung zog, dass es auch genauso gut hätte Frühling sein können, ist es doch bereits November.

Bunte Blätter treiben über die Wasseroberfläche im Außenbecken wie auf einer zähflüssigen Substanz. Nebel quillt aus dem trüb gewordenen Becken.

Warum hat die Angst soviel Macht über mich? Warum gelingt es mir nicht, Rebecca zu lieben? Einfach nur – zu lieben?

Und: Warum musste der kleine Junge sterben?

Es war vor drei Tagen passiert. Er war am Grund des Beckens gelegen. Der Schichtleiter hatte ihn rausgefischt: Tot. Der Schichtleiter hatte nur gesagt „Zu DDR-Zeiten hätte es das nicht gegeben ( – ). Da konnten alle Schulkinder schwimmen.“, und: „Eher kamste nich inne Schule.“ Ja dachte ich, da gebe ich ihm nun doch einmal uneingeschränkt recht! Jetzt suchen alle – wie immer – einen Schuldigen. Es muss ja immer einen Schuldigen geben! Die Bildzeitung hat sich bereits die Eltern gekauft. Es wäre besser, Bild würde sich stattdessen weiterhin um eine aufmerksame Beobachtung von Britney Spears` Achselbehaarung bemühen, um der Welt rechtzeitig von schmutzigen Veränderungen in deren Achselhöhlen berichten zu können.

Wie seltsam eine Gesellschaft sein muss, die sich an drei Komma fünf Millimeter langer Achselbehaarung echauffiert, denke ich mir.

Aber das ist eine andere Frage.

Er war am Boden gelegen, mein Gott, ersoffen, in der Tiefe, am Boden. Vieles liegt im Schatten, aber tote Kinder sind noch einmal etwas ganz anderes. Manche fallen deutlich, manche still und leise, andere stehen ihr Leben lang im Rampenlicht. Auch Helden können fallen, denke ich, wie Gegenstände, Urteile und Grenzen. Wer hoch hinaus will, fällt manchmal tief. Ob er jetzt wohl denkt, er habe versagt? „Wenn Du nicht schwimmen kannst, gehen dir schnell mal die Lichter aus,“ hörte ich ihn erst kürzlich noch zu einer Schar übermütiger Kinder sagen. Wer denkt nun nicht: Was hat es genutzt?

Eis auf dem Außenbecken.

Wenn ich am Rand entlang gehe so schimmert das Wasser im Hallenbecken schwarz. Nahezu so schwarz wie die Kleidung unseres Betriebsleiters und seiner Sekretärin, die ersten Tage danach.

Auch wenn der Schnee nicht liegen bleibt, schneit es doch im Überfluss. Aprops Überfluss. Ich habe eigentlich alles. Doch das ist vielleicht auch zuviel? Vielleicht habe ich weit mehr, als ich zum Leben brauche. Zuviel an Dingen, an Wünschen, Gedanken, Ideen?

Ich kann nur weiter auf die Becken starren. Darüber hinaus bleibt nichts zu tun.

Offenbar.

Doch irgendwie treibt es mich auf das Eis. Ich darf es jedoch nicht betreten. Auf dem Computer lese ich die Temperatur des Außenthermometers: Minus drei Grad Celsius.

Was passiert aber, wenn ich mich der Ahnung widersetze. Welche Ahnung meine ich überhaupt?

Ich starre auf das Eis. Es kann sehr glatt sein unter der zarten Schneedecke. Glatt oder gar rissig. Ich entscheide mich dafür, das Eis nicht zu betreten. Ich traue dieser Schönheit nicht. Es wäre größenwahnsinnig und ein bisschen narzisstisch, den Gefallen an der eigenen Angst zu verehren, denke ich mir. Ich mache nicht mal vom Dreimeterbrett einen Kopfsprung. Vielleicht bin ich auch nur etwas feige. Das Eis trägt, das Eis trägt nicht. Der Kippmoment scheint beinahe fließend und irgend etwas Ominöses zieht mich in zwei Richtungen. Vielleicht ist es nur die Angst davor, nicht standzuhalten, einzubrechen. Was dann?

Zurück am See.

Das Licht für die Sturmwarnung wirft einen orangefarbenen Strich auf die graublaue Oberfläche des Sees, in unsere Richtung, der Richtung des Stegs, auf dem wir stehen. Ich von ihr weg gedreht, die Hände auf die Brüstung gestützt, Rebecca auf der gegenüberliegenden Seite, mit dem Rücken ans Geländer gelehnt.

Ich sage „hier war ich und habe an der Tiefe des Beckens geschrieben“ und dass ich (wieder) weg müsse, irgendwie, weit weg.

„Dann mach es doch endlich einmal und red nicht nur ständig davon!“

„Ich möchte aber viel lieber noch hier stehen und das einfach schön finden und Geld dafür bekommen,“ erwidere ich und bin froh, nicht sehen zu müssen, ob sie – während ich dies sage – die Augen verdreht.

Anschließend verlasse ich schnellen Schrittes den Steg.

Die einzelnen Teile werden im „Duftenden Doppelpunkt im Abstand von 14 Tagen veröffentlicht. Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 4
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 5
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 6
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 7

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 9

Montag, 1. Juni 2009

EPILOG

Ich habe mir einen Boxsack gekauft. Er ist beigefarben, etwa einen Meter groß, hat einen Durchmesser von 30 Zentimetern und hängt an einem Balken im Stadel.

Am ersten Abend nach dem Kauf der neuen Errungenschaft habe ich gleich einmal den Schichtleiter vermöbelt. Nun ja, vielmehr wollte ich das tun. Ich habe den Boxsack verfehlt und daraufhin tat es mir fast leid, es überhaupt versucht zu haben. Ich haue nicht gerne auf Menschen ein. Auch nicht virtuell. Mir tut schon der Boxsack leid, … wenn ich ihn treffe. Nach jedem Training – wobei ich nun nicht so übertreiben möchte und mir der Begriff Training für eine meist lediglich nur vier bis fünf Minuten andauernde Einheit als nahezu peinlich erscheint – streichle ich deshalb zum Abschluss stets meinen Boxsack.

Eigentlich mag ich den Schichtleiter schon. Er erinnert mich an meinen eigenen Vater, was mich jedoch angesichts der Tatsache, dass sich bisher keiner – mein leiblicher Erzeuger eingeschlossen – jemals bedeutsam um diese Rolle bemüht hat, auch nicht sonderlich verwundert.

Ja, ich mag den Schichtleiter und das Land seiner ausschweifenden Erzählungen, all seine kuriosen Geschichten sowie seine holzige Art. Auch wenn er sich nicht anständig benehmen kann, so weiß ich jedenfalls, dass ich ihn dahingehend sogar ein wenig beneide, nämlich in dem was er ist oder wenn auch nur, so dennoch unmissverständlich vorgibt, zu sein: Ein Kerl von einem Mann!

„Wir bekommen nun auch so ein Kamera-Überwachungssystem von dem ich dir vor noch gar nicht allzu langer Zeit erzählt habe.“

„Tatsächlich? Na ja, wenn es hilft. An die Überwachung, allerorts, sind wir ja schon gewöhnt,“ erwiderte Theo.

„Das stimmt. Mein Schichtleiter meinte kürzlich, dass übrigens sämtliche Stasileute nahtlos im BND untergekommen seien. Wenn er auch viel erzählt, den lieben langen Tag, da kennt er sich wohl aus.“

„So gesehen wundert mich nichts mehr … in diesem Staat.“

„In diesem Staat? Linkes wie rechtes Gedankengut wird den Leuten weltweit, in Watte verpackt, fein demokratisch serviert. Schau dir nur einmal an, was Putin so getrieben hat! Bush und Rumsfeld haben sämtliche Hitlerbücher gelesen. Da wundert mich auch nichts mehr!“ „Bush? Wer hat ihm vorgelesen?“

Stromausfall.

Ich suche die Streichhölzer. Seit ich das Rauchen aufgegeben habe, ist es mir auch nie mehr gelungen, irgendwo im Haus ein Feuerzeug zu sehen. Sie scheinen allesamt auf nahezu mysteriöse Weise, in Solidarität mit den letzten Zigaretten, verschwunden zu sein.

Verschwunden ist ebenfalls meine Unruhe im Kopf, wenn auch erst seit wenigen Minuten. Ich denke, der orkanartige Wind hat irgendwo eine Stromleitung ausgehebelt oder gar einen ganzen Masten umgeschmissen. Wundern würde mich das nicht. Drei Fenster sind nämlich gleichzeitig zugefallen und zwar in einer Lautstärke, dass es mich schon fast etwas überrascht, dass sie dabei nicht zerbrochen sind. Das Haus ist ein bäuerlicher Altbau, der schätzungsweise an die 120, wenn nicht auch schon 150 Lebensjahre zählt und dessen Fenster nach wie vor aus jeweils zwei dünnen, in bereits erheblich verloderten Holzrahmen angebrachten, Einzelglasscheiben bestehen.

Der Sturm lässt nach, es hat zu regnen begonnen. Die Streichhölzer liegen direkt neben der dicken Kerze auf dem Küchentisch. Mit dem Strom ist meine Unruhe verschwunden. In mir … wie vermutlich auch in den Teichen, Seen und Außenbecken, … hat sich der Schlamm gesetzt.

Ich wollte gerade eben den Computer anschalten und vermutlich noch einiges mehr – aus dem mittlerweile erheblich angewachsenen Repertoire Strom fressender Wohlstandsutensilien … und nun gibt es nicht einmal mehr heißen Kaffee!

Die Kerze flackert lieblich, während es zu nun einsetzendem Donner und Geblitze riesige Tropfen an die Scheiben schleudert.

Ich gehe in die dunkelste Ecke der Wohnung und krame nach vorsichtigem Herantasten mein grünes Notizbuch aus dem Regal.

Nichts geht mehr.

Dass ich mich jemals so frei gefühlt haben könnte, denke ich mir, muss – wenn überhaupt – dann schon sehr lange her sein …

Und ich warte, warte weiterhin, auf irgendetwas, wie schon einmal erwähnt. Ich bin unterwegs und wohin ich will weiß ich immer noch nicht. Alles was ich weiß ist, dass ich dabei bin, mein kleines grünes Notizbuch zu öffnen, um mich weiterhin ausgiebig meinen Illusionen zu widmen. Jeder macht sich ja seine ganz individuellen Illusionen. Ich für meinen Teil ziehe es dabei vor, ein Schriftsteller, Musiker, Regisseur und Künstler zu sein; vielleicht auch nur, um vor mir selbst den Anschein zu wahren, mir all meiner Illusionen bewusst und deren eigener Konstrukteur zu sein.

Joe

Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 4
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 5
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 6
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 7
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 8
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 9

Raphael Vogt – Die Tiefe des Beckens – Teil 7

Donnerstag, 21. Mai 2009

Von Schwarzen Löchern und Maschinen

Apropos Strömungskanäle und Kreisläufe. In Cern ist es bislang dann doch bei den – bereits von den Wissenschaftlern prognostizierten – kleinen Löchern geblieben. Der Weltuntergang lässt zum Glück auf sich warten. Oder auch – Gott sei Dank? Ganz nebenbei: Was bringt uns eigentlich ein Teilchenbeschleuniger? Ich wäre vielmehr für eine Entschleunigung der Zeit. Kommt, lasst uns den Zeitstrudel abstellen und einen Zeitentschleuniger bauen! Ich denke mal, der benötigt auch nicht Milliarden von Kabeln, aber ich denke auch, die Entschleunigung der Zeit wäre dennoch ein schwieriges Vorhaben. Womöglich würden wir mit der Entschleunigung der Zeit (wieder) eher finden, wonach wir doch eigentlich suchen. Dem Einzigen, dem Urgrund. Und das ist nun einmal nicht ganz im Sinne des Kapitalismus, der sich an der kultivierten Unzufriedenheit seiner Mitglieder nährt.

Also bevor der Geist der Zivilisation unserer Städte die ganze Welt vereinnahmt – bis die letzten Coca-Cola-Fahnen auf mongolischen Nomadenzelten wehen – habe ich mir meinerseits vorgenommen, die Stadt zu verlassen, um mich der Ursprünglichkeit hinzugeben. Na ja, was auch immer das ist und wie auch immer das geht. Aber ich will und werde das tun. Schon allein dieser Vorsatz erscheint mir wie ein Frühjahrsputz in meinem Gewissen. Ich bleibe dann physisch zwar Teil der Stadt und Teil des Getriebes, doch innerlich klinke ich mich aus. Ich folge fortan nicht mehr der großen Maschine und lasse mich nicht führen von ihr. Ich will bald aufgehört haben, mich vom Konsum und indoktrinierten Sehnsüchten diktieren zu lassen, ich steige aus dem Sumpf der schwarzen Löcher hinauf zu den Türmen. Wie das geht? Nun – wie auch immer. Wie auch immer! Ich werde dann eben der Feind sein und der Fernseher wird mich hassen. Und der Staat wird mich hassen. Und der Unternehmer sowieso. Der Fernseher, der aus dem Kreis der Familie ja bekanntlich einen Halbkreis macht und längst auch in den schönen runden, zirkuszeltähnlichen Jurten der Mongolen Einzug hält, wird er also womöglich nicht bald auch noch Halbkreiszelte für die Nomaden fordern?

Ich denke, die Maschine der wir dienen ist ein dickgefressenes, träges Tier mit fletschenden Zähnen. Es wird ein Loch geben, das uns alle verschlingt, wenn die Ablenkung ihren Höhepunkt erreicht. Diese Maschine ernährt sich von (unserer) Zeit, ist ein riesengroßes Etwas ohne Kopf und wir haben ihr alle zu viel Macht gegeben.

Zurück zum schwarzen Loch. Schwarze Löcher haben die Eigenschaft, alles aufzusaugen. Zuweilen auch unsere Aufmerksamkeit. Kaum etwas scheint uns aber mehr in den Bann zu ziehen als der Beckenraum. Dass das auch gut so sei und schließlich die Aufgabe eines Bademeisters werden Sie nun vermutlich sagen und ich möchte Ihnen da – in gewisser Hinsicht zumindest – nicht widersprechen.

Spätschicht.

„Dort hinten trainiert der Schwimmverein. Schau mal wie der Trainer seine Zöglinge hetzt.“

Schichtleiter: „Und …? Schon recht so!“

Ich nickte.

Dieser Ehrgeiz kotzt mich an!

Andererseits denke ich mir, hat er vielleicht auch recht. Auf jeden Fall gibt es nichts beunruhigenderes wie eine Horde Kinder die nie richtig Schwimmen gelernt hat. Das ist unter anderem eine nicht unbedeutende Konsequenz sogenannter Spaßbäder, in der gerade Kinder vom Angebot an Wasserspielen und Rutschen, bis hin zu Wasserkino und Internet überwältigt sind und letztlich das Schwimmen selbst jegliche Attraktivität verliert. Auch bei uns wird auf den Faktor Spaß gesetzt, denn nur der garantiert bei den hohen Betriebs- und Instandhaltungskosten des Bades den bitter notwendigen Zulauf und hält somit – neben den Erträgen aus Wellness- und Saunabereich – den Betrieb über Wasser.

Was da nun wiederum an Energie verschwendet werden muss, um das ganze Treiben am Laufen zu halten steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt. Ich möchte nicht wissen wie viele Menschen in Afrika nur durch die Menge an Wasser überleben könnten, welche allein im Freibadebereich pro Badetag verdunstet, von der nötigen Frischwasserzufuhr von mindestens 30 Liter pro Besuch und Badegast und des vergossenen Wassers – zudem oft ohne jeweilige Benutzung – der laufenden Duschen ganz abgesehen.

Aber da ich nicht Gefahr laufen möchte, meinen Vorgesetzten mit solchen Fragen in seiner Position als wirtschaftlich denkendem Mitglied der Betriebsleitung in Frage zu stellen, halte ich mich ihm gegenüber mit der Äußerung meiner Gedanken zurück. Abgesehen davon komme ich ja hiermit nicht herum, auch meinen eigenen Job in Frage zu stellen.

Glauben kann ich dem Schichtleiter übrigens nahezu gar nichts. Außer, dass er damals als, wie er mir erzählte – von mir aus auch gezwungenermaßen – parteitreuer Mitarbeiter des Grenztrupps auf Flüchtlinge geschossen hat. Das ist nämlich etwas, das er nicht gesagt hat. Das macht ihn – im Kontext seines Charakters – grundsätzlich verdächtig. Auf die Frage hin, ob er es denn einmal selbst getan, ob er eigenhändig geschossen hätte, schweigt er sich aus. Und dieses Schweigen nehme ich ihm ab. Es wirkt auf mich im Gegensatz zu seinen Geschichten, welche allesamt im Kern den Zweck beinhalten, sich damit selbst auf eine heldenhafte Art hervorzuheben nur allzu authentisch. Es dürfte ein qualvolles Schweigen sein. Es ist mir Antwort genug und nicht selten spüre ich einen qualvollen Drang seinerseits, mehr zu erzählen, etwas auf ewig geheim Geschworenes preiszugeben und das Bedürfnis meinerseits, diesen verhärteten, innerlich todtraurigen Mann kameradschaftlich, ja wenn nicht gar, nahezu freundschaftlich, in den Arm zu nehmen, damit er sich womöglich endlich einmal zugesteht wie ein kleiner Junge heulen zu dürfen. Natürlich mache ich das nicht. Doch ich wünsche es ihm. Ich mag diesen unbehauenen Kotzbrocken!
Überwiegend scheint er sich aber gar unbändig nach seiner Vergangenheit im Osten zu sehnen, da er diese immer wieder in lang ausgedehnten Monologen aufs Höchste verklärt.

Jeder hat wohl etwas vor sich selbst zu verbergen, denke ich mir und ich nehme mich da nicht aus.

Die einzelnen Teile werden im „Duftenden Doppelpunkt im Abstand von 14 Tagen veröffentlicht. Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 4
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 5
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 6

Raphael Vogt – Die Tiefe des Beckens – Teil 6

Mittwoch, 6. Mai 2009

IV Der Wassermann

„Wenn das Wasser still ist, hat man die Klarheit und der Bademeister sieht bis auf den Grund. Die Leute dürfen sich im Wasser nicht bewegen. Es dient doch nur der Sicherheit! Siehst du den paradoxen Zusammenhang? Wer sich nicht bewegt, lebt nicht und Stillstand ist der Tod bekommt da eine ganz neue, wörtliche Bedeutung. Das eine existiert bekanntlich nicht ohne das andere.“

Theo schaut mich erwartungsvoll an, ich fahre fort:

„Es gibt jetzt auch Überwachungsanlagen für Schwimmbecken. Es handelt sich dabei um ein Sicherheitsnetz aus einem intelligent agierendem Kamerasystem, welches angeblich automatisch Ertrinkende erkennt.“ Hatte ich in einer Fachzeitschrift gelesen.

„Wie das?“ (fragte Theo)

„Die Kameras sind am oder in der Nähe des Beckenbodens installiert und reagieren ab einem gewissen Zeitfenster auf regungslose Körper.“

„Erstaunlich! So ein System tut Not in unserem Staat!“

„Wie meinst du das?“

„Wie ich es gesagt habe. Wer bremst eigentlich die Börsianer, die Globalisierung, den Kapitalismus? Und wer fängt all die auf, die dabei durchfallen, wenn selbst das Bankennetz lebensgefährlich grobmaschig geworden ist. Unser letztes Sicherheitsnetz heißt Hartz 4.“

„Ich halte es da mit der Kundenbetreuerin von e-on, die sich neulich am Telefon meine unerklärbar hohe Telefonrechnung damit erklärte, dass sich wohl, wortwörtlich – das System geirrt habe.“

„Sagst du das auch zu den Ertrinkenden, falls die Kamera versagt?“

„Erstens: Wir haben noch keine automatische Überwachung in unseren Schwimmbecken. Zweitens: Es gibt da einen filigranen Unterschied zwischen Überwachung u. Sicherheit. Wir stehen für letzteres.“

Ich fuhr fort „Denn es ist ja nicht jeder ein Fischmann. Neulich habe ich den ganzen Tag einen Schwimmer beobachtet. Ich nenne ihn mal Fisch, denn er schmiegte sich in die selbsterzeugte Welle und unterbot dabei stets die Wasserluftkante. Ich fragte mich die ganze Zeit: Mein Gott, muss er nicht atmen?“

Vielleicht atmete er Wasser? Vielleicht reichten ihm die feinen Luftbläschen, vielleicht hatte er unsichtbare Kiemen? Ich traute meinen Augen nicht. Diese Lücke zwischen Staunen und Zweifeln war für einen Augenblick von etwas Zeitlosem erfüllt, das sich in diesem kurzen Augenblick schier unendlich auszudehnen schien.

„Der Gong mit anschließender Ankündigung vom Strömungskanal holte mich wieder zurück.“

Ich steckte den Schlüssel in die Säule, das orange Betriebslicht blinkte auf. Etwa 30 Sekunden später schoss das Wasser aus den Düsen. Für die nächsten 10 Minuten hatte ich diesen fröhlichen Kreislauf der Sicherheit wegen zu beobachten und anschließend wieder durch ein Entfernen des Schlüssels aus der Säule abzustellen.

Der Zeitstrudel dagegen ist kaum abzustellen. Alles dreht sich immer wilder und schneller. Werte, Regeln und Normen, all das lang gehasste aber doch im Innersten Halt gebende schwindet unaufhörlich mit der Fliehkraft der unkontrolliert rotierenden Zentrifuge, in der sich unsere Gehirne im Zeitraffer – nahezu bereits schon organisch miteinander vernetzt – unentwegt im Kreis drehen. Manchmal möchte ich einfach abtauchen, untertauchen, wie der Fischmann sein. Ich komme da nicht mehr mit.

Ich möchte manchmal einfach nur innehalten, den Schlüssel ziehen und den Zeitkanal abstellen und schreien: Hey Leute, merkt ihr denn nicht, dass ihr Euch im Kreis dreht. Alle sind geschäftig, bewegen sich und strampeln sich ab – ohne Rücksicht auf Verluste – aber keiner kommt voran. Leute, ihr werdet doch gedreht und habt aber den Eindruck, euren eigenen Kurs zu fahren.

Die einzelnen Teile werden im „Duftenden Doppelpunkt im Abstand von 14 Tagen veröffentlicht. Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 4
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 5

Raphael Vogt – Die Tiefe des Beckens – Teil 4

Mittwoch, 8. April 2009

Als ich am 25. April zu meiner ersten Frühschicht antrat, empfing mich der Schichtleiter mit den freundlichen Worten „wir werden sehen, wie lang du das machst“, was mir wiederum Anlass genug war, den ganzen folgenden Tag an mir und jeder abgeleisteten Arbeitsaufgabe zu zweifeln, auch wenn sie an sich noch so einfach zu bewältigen war. Nachdem ich mich, mit der zaghaften Bemerkung „Kaffee tut schon ganz gut zwischendurch“ – die der Schichtleiter daraufhin mit der Gegenfrage „Willste?“ beantwortete – sozusagen selbst zu einer Tasse Kaffee eingeladen hatte, wagte ich es vorsichtig, mir aus der blauen Literkanne einzuschenken und fragte nebenbei den Schichtleiter was man denn „als Bademeister so wissen“ müsse?. Dabei drückte ich mühsam Kondensmilch aus der Dose in die Kaffeetasse und dachte darüber nach, dass da ein zweites Loch fehle und fühlte mich an meinen 1987 verstorbenen Großvater erinnert, der stets auch auf ein zweites Loch in der Bärenmarken-Büchse bestanden hatte, wenn Großmutter die Dose zum Malzkaffee – den sie stets in einer verbeulten, weißblau emaillierten Blechkanne servierte – auf den spartanisch gedeckten Küchentisch gestellt hatte. „Das heißt Schwimmmeister,“ korrigierte mich der Schichtleiter mit mahnendem Tonfall und fuhr mit den Worten „Kaffee kochen muss man können.“ fort. Nach einer Pause und einem kräftigen Schluck Kaffee – welchen ich ja kurz zuvor für ihn / uns aufbrühen durfte – ergänzte er „das kannste schon mal nich,“ und versuchte sogleich einem flüchtigen Seitenblick einhergehend, den an einem Abwenden meinerseits abgelesenen Schaden mit der Entschuldigung „aber das liegt vielleicht auch daran, dass es mir nie genug Pulver sein kann“ zu begrenzen. „Weißte, ich vertrag nämlich so ne Hühnersuppe nich.“ Dann hustete er kräftig und zog umgehend an seiner Zigarette, als wäre die Ursache (des Hustens) sogleich deren Heilung und nippte so langsam am Kaffee, als wolle er die Tasse dazu nützen, um sein Gesicht vor mir zu verstecken. „Nichts gegen deinen Kaffee. Ist halt Geschmackssache.“

Der Schichtleiter blickte auf seine stolze, vermutlich wasserdichte, Armbanduhr. Ohne von ausgesprochener Sachkenntnis sprechen zu können, wage ich die Vermutung, dass es sich bei ihr um die klassische Fälschung einer Rolex, oder was auch immer – ich hab gar nicht so genau hingeschaut – handeln musste. „So,“ sagte er dann „wo bleibt er denn?“ und ergänzte nach einem Blick in mein von Unwissenheit gezeichnetes Gesicht „na, dein Kollege.“ „Wie spät ist es denn?“ fragte ich „und wann sollte er denn da sein?“ „Sechs Uhr zwölf. Er sollte wie du – seit sechs Uhr – hier sein. Wenn Leandro – so heißt er, dein Kollege – bis viertel nach nicht hier ist, dann muss ich mit dir hinter gehen.“ „Hinter gehen?“ „Zur Putzkammer“ und dann lachte er „Einweisen!“. Mir schwante, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste und als ich mir schon geeignete Worte für die Verabschiedung zurechtlegte, meinte der Schichtführer „Ja. Putzen, natürlich! Was denkst `n du?“ und machte aus seiner Freude über meine Verwunderung keinen Hehl. „Ha ha, wir putzen doch alle hier.“ Dann klopfte er mir auf die Schulter. War dies als Ritterschlag zu verstehen?

Regentropfen kleben an den Schaufensterscheiben. Blinkende Reklame, Spritzwasser und Neonlicht. Die trübe Nacht schluckt den verbliebenen Schall des Tages. Der Regen trommelt leise auf das Blechdach über mir … vor dem großen Fenster eines Modekaufhauses. Ich vermisse mein Auto. Zwei Minuten später hält der Bus.

Ich habe Angst vor dem 10- Meter-Brett und Angst vor denen, die springen, so groß ist mein Respekt! Ich habe Anna Baders gespannte Fußsohlen gesehen, ihren Blick, ein Interview nach dem Sprung. Warum macht mich immer alles gleich so an? Ist es nur die Sehnsucht? Wenn ja, wonach? Wahrscheinlich nur die nach dem eigenen Mut. Begierde kann so tückisch sein! – Ein dunkler Wald aus Projektionen!

Ich lechze nach Leben!

Ich denke mir: Wie tief muss so ein Becken sein? Je höher gesprungen wird, desto mehr Fallgeschwindigkeit – und diese steigt mit zunehmender Höhe im Quadrat – damit jedoch auch die Aufprallhärte. Je höher der Sprung, desto härter also das Wasser, desto mehr Widerstand bzw. weniger Wasserverdrängung. Was logischerweise somit die Bremswirkung erheblich erhöht und die Tiefe des Eintauchens reduziert. Es ist also ein Trugschluss, dass ein Sprung aus großer Höhe eine wesentlich größere Wassertiefe erfordern würde. Wie tief ist so ein Becken? Ich befürchte, dass meine Männlichkeit im Gegensatz dazu verschwindend klein ist! Und ich glaube das nicht nur, was meinen Mut betrifft.

Denn so ein Becken ist tief!

Die einzelnen Teile werden im „Duftenden Doppelpunkt im Abstand von 14 Tagen veröffentlicht. Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – TEIL 3

Mittwoch, 25. März 2009

Am Beckenrand

Ich betrachte mein Auto in der Schrottpresse. Eine nackte Glühbirne schaukelt an einem langen Kabel über meinem Kopf hin und her und bewegt dessen Schatten hinter sich, während das Auto unter Krächzen gestaucht wird und sich der Bug nun allmählich nach oben aufbäumt. Der Fahrgastraum schrumpft unter dem Gestöhn der sich biegenden Bleche, bis er schließlich ganz verschwindet. Ein letztes Rumpeln, gefolgt vom Flackern der Glühbirne. Mein Auto ist zu einem fast quadratischen, tonnenschwerem Klotz geworden. Ich fühle das starke Bedürfnis, umgehend die Halle zu verlassen.

„Oft legt sie ihren Kopf auf meinen Bauch, einen Arm um die Schulter …“, begann ich zu erzählen, „ … dann sagt sie `ich bin müde, komm gehen wir ins Bett. `Ich daraufhin `Ich komme gleich. Nur noch ein bisschen …` und sie `das kenne ich schon, du kommst frühestens in drei, vier Stunden.` Und wenn das Gefühl schön ist, so schön, dass es dem nachzugeben lohnenswerter erscheint als die weitere Betäubung durch das nächtliche Fernsehprogramm, folge ich ihr sogleich ins Schlafzimmer. Ansonsten verbringe ich tatsächlich oft noch drei bis vier Stunden am Computer oder auf der Couch vor dem Fernseher.“

„Wir hatten jahrelang sexuelle Probleme, genau genommen sogar die ersten fünf Jahre unserer Beziehung. Wir waren schon verlobt, als meine Zweifel an unserer Beziehung so groß wurden, dass ich mich wie in eine Falle geraten fühlte, bei lebendigem Leib unausweichlich dem absoluten Stillstand ausgeliefert zu sein. Ich war in der Zwickmühle, wollte sie weder heiraten, schaffte es aber schon gar nicht, den Gedanken zu Ende zu denken, wie es wäre, wenn ich sie verlassen würde.“

„Und?“

„Na ja, ich bin bei ihr geblieben. Wir sind nun seit neun Jahren glücklich verheiratet und haben zwei liebe, gesunde Kinder. Ich bin sehr erfüllt und zufrieden.“

„Ihr habt wohl an Euch gearbeitet?“

„Viel einfacher, als ich mir damals hätte träumen lassen – wir haben unser eigenes Leben zurück erobert. Jeder geht seinen eigenen Weg, ohne dass wir uns dabei aus den Augen verlieren würden. Es reicht schon, sich mal einen Tag lang nicht zu sehen und ein paar eigene Stunden und Interessen für sich zu haben. Ich habe gelernt, gewisse Gefühle und Gedanken für mich zu behalten und nicht mehr alles zu zerreden.“

„Aber die meisten Paare reden doch eher zu wenig miteinander.“

„Wir sicher nicht. Ich habe auch nicht damit aufgehört, etwas von mir mitzuteilen. Ich habe nur das Wie verändert. Ich lasse einfach alles Unwesentliche weg und bringe meine Gedanken, Wünsche, Empfindungen und Anliegen schnell auf den Punkt. “

„Eure Beziehung ist also wesentlicher geworden?“

„Wir sind wesentlicher geworden. Das macht die Beziehung interessanter. Wir interessieren uns wieder füreinander. Wenn man sich im Streit, im Stillstand befindet, vollkommen auseinandergelebt hat, so kann man sich oft gar nicht vorstellen, wie, bzw. dass überhaupt eine, auch nur die geringste, Möglichkeit besteht, sich wieder aufeinander zu bewegen zu können und einander neu zu begehren.“

„Die meisten Paare brechen in großen Krisen aus, suchen sich einen anderen Partner …“

„Nun ja, ich würde nicht sagen, dass das die Meisten in dieser Situation tun … es ließe sich jedoch sicher so manches mal vermeiden. Sexualität hat viel mit Illusion zu tun. Liebe aber bedarf der Auflösung von Illusionen, um zu wachsen. Das ist erst einmal ein Paradoxum.“

„Tatsächlich?“

„Aber lösbar. Es ist ein Wechselspiel aus Beidem. Anziehung und Abstoßung, Liebe und Sex, ich und wir, Nähe und Distanz.“

Ich weiß noch nicht, wem ich den Dialog zuordnen werde, aber er klingt – wie ich finde – nicht völlig uninteressant.

Ich begann die Arbeit an „die Tiefe des Beckens“, nachdem ich die dritte Woche als Aufsicht in einem kleinen Schwimmbad hinter mich gebracht hatte. (Mehr jedoch müsste man sagen, zwängte sich mir der Text so nach und nach geradezu auf. Nachts nach dem Spätdienst konnte ich keine Ruhe finden, so dass ich mich gewollt unbemerkt aus Rebeccas erschlaffter Umarmung wand, um mich, nur mit der Unterhose bekleidet, vom Bett an den Schreibtisch zu schleichen.)

Und schon am ersten Arbeitstag im Schwimmbad befand ich, von Leuten umgeben zu sein, die nicht geübt darin zu sein schienen, weit über den Beckenrand hinauszublicken.

Die einzelnen Teile werden im „Duftenden Doppelpunkt im Abstand von 14 Tagen veröffentlicht. Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2