Archiv für die Kategorie 'Literarische Texte'

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2

Mittwoch, 11. März 2009

Textdiskussion im Duftenden Doppelpunkt

„Die Tiefe des Beckens“ wird vierzehntägig, in zehn Teilen, jeweils am Mittwoch hier im Blog erscheinen.

Wie tief ist ein Becken, … ab wann trägt das Eis? Und: Was bin ich bereit zu riskieren? – Ein Bademeister wirft Blicke in die Tiefe und weit über den Beckenrand … hinaus.“

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und verknüpfen diesen Wunsch mit der Bitte, Ihre Meinung zum Text entweder mittels der Kommentarfunktion hier im Blog zu posten oder dem Autor via Mail direkt zukommen zu lassen.

Teil 2:

Ich habe alles andere ausgeschaltet. Ich sitze im Zug und schreibe, wobei mir die Welt ruhiger erscheint wie zuhause nach Mitternacht, im Schein meiner kleinen Schreibtischlampe. Die Welt ist natürlich nicht wirklich ruhiger. Ich sitze im Großraumabteil eines überfüllten Wochenendzuges, auf einem Klappsitz, zwischen vorwiegend jungen Leuten, schweren Rucksäcken und Fahrrädern. Die Türen öffnen und schließen sich alle paar Minuten, da die Regionalbahn offenbar in sämtlichen Dörfern hält. Wenn sich die Türen öffnen riecht es nach Bremsabrieb, doch ich kann mich hier besser konzentrieren, da sich die Welt um mich herum bewegt und meine Hand ein Teil dieser Bewegung wird. Es drängt sich nichts zwischen Hand und Kopf wie in der seelenvollsten Ruhe, zuhause am Schreibtisch.

Gestern bin ich gelaufen, die ganze Konstanzer Uferpromenade entlang, wie in der Arbeit, denn ein See ist auch nur ein großes Becken, jedenfalls aus der Sicht eines mit der Rettung Ertrinkender beauftragten Rettungsschwimmers oder Schwimmmeisters. Ein Schwimmmeister ist übrigens kein Bademeister wie landläufig angenommen wird, sondern etwas anderes. Man beachte, dass Schwimmmeister großen Wert auf diese Unterscheidung legen.

Ich bin also am Beckenrand, die ganze Uferpromenade entlang gelaufen, wie in der Arbeit, nur schneller. Die Arbeit der Aufsicht hier würde ich nicht machen wollen, falls es die Tätigkeit hier überhaupt geben sollte. Es wäre eine besonders anspruchsvolle Tätigkeit. Seewasser ist dunkelgrün, blau oder grau und unermesslich tief und die riesige Wasseroberfläche lässt sich nur äußerst schwer überblicken.

Strammen Schrittes bin ich gelaufen, die Augen unter der Sonnenbrille auf das Wasser gerichtet. Das große Becken. Und noch weiter, viel weiter darüber hinaus. Mir kam es vor als hätte ich den halben See umrundet, bis ich schließlich an einer Anlegestelle für die großen Fähren landete und dort ein kleines Mittagessen zu mir nahm, während ich mich jedoch – wie ich später dann bemerken sollte – noch immer innerhalb von Konstanz befand. Ich konnte das Essen nicht so recht genießen, was wohl erstens an den halbrohen Spiegeleiern und zweitens an meinem, unter der extremen Sonneneinwirkung leidenden, Orientierungssinn liegen musste. Mir war schlecht. Ich sagte zum Ober, dass es gut war. Am Tisch vor mir auf der Sonnenterasse, welche in etwa derselben Höhe lag, wie der des Personendecks der großen Fährschiffe, stritt sich ein Paar mittleren Alters über den geplanten Einbau bzw. Ausbau ihrer Sauna. Er wollte in den Garten hinaus bauen, sie wollte den Garten jedoch rechteckig belassen. Man könne doch problemlos „oben duschen“ anstatt in einer weiteren Nasszelle und somit „doch Raum innerhalb des Hauses gewinnen“ bzw. einsparen.

Ich öffnete das grüne Notizbuch und versuchte, ein paar weitere Zeilen zu schreiben. Der Mann mit dem Pils, der seine Sitzrichtung zur Fähre gerückt hatte und langsam, ganz gemächlich an seinem Glas nippte, half mir dabei, die Gedanken einzufangen. Ich schrieb über die Gedanken, die sich am See beim Baden aufgedrängt hatten. Es waren die Seiten, welche auf den Weg entlang der großen Wiesen mit den Halbnackten zurückzuführen waren, die ich anschließend vor dem Einschlafen im Hotelzimmer aus dem Buch herausreißen würde und deren gedankliche Nachgeburt ich später versuchte mit zu verwerfen, was mir – um den Preis einer von innerer Unruhe getränkten Nacht – auch weitgehend gelang.

Die herausgerissenen Seiten hatten mir gestern den Tag versaut. Ich glaube an die zehn Kilometer gelaufen zu sein, um den darauf notierten Sätzen zu entkommen.

Vergeblich.

Ich hatte versucht, ruhig auf dem Kiesbett zu sitzen, meinen Kopf im etwa 18 Grad kalten Wasser herunter zu kühlen, doch es half nichts. Meine Gedanken waren nur umso hitziger geworden. Die unterdrückte Müdigkeit tat ihr Übriges dazu. Sie schafft es, mich in solchen Situationen absolut wehrlos zu machen. Und ich war „hundemüde“ wie man so sagt, auch wenn ich persönlich bislang selten auf einen müden Hund getroffen bin. Ich fände „hundeaggressiv“ als Wort – wenn auch natürlich in einem anderen Zusammenhang – dagegen weitaus sinnvoller, weil mir die Wörtlichkeit seiner Bedeutung infolge persönlicher Erfahrungen schlüssiger schiene. Ich bin sogar schon einmal – es war beim Joggen – von zwei Hunden gleichzeitig angegriffen worden! Meinen linken Unterschenkel ziert seitdem ein kleines Loch. Man kann es deutlich spüren, wenn man mit dem Finger darüber fährt. Sollten Sie mich also zufällig einmal irgendwo beim Baden treffen und Gesetz den Fall ich würde neben Ihnen liegen – ich bin wie gesagt der Mann mit dem Loch im Bein.

Ich war also hundemüde und höchst wahrscheinlich mit diesem abscheulichen, hundeartigen, Testosteron angereichert. Kaum ein weiblicher Körper auf den Wiesen war vermutlich meinen Blicken entgangen. Sollte es also das Wort „hundegeil“ geben, wäre es für diesen, eben beschriebenen Zustand durchaus eine treffende, … ach lassen wir das!

Wir waren zusammen nach Zürich gefahren. Im Taxi. Die vom Bahnhof und ich. Eine handvoll Jungs, ein Mädchen und eine Frau. Ich hatte ein bisschen Aufmerksamkeit bekommen – „Hallo, was geht?“, sowie leicht verdauliche Unterhaltung und ein feines Fläschchen Bier. Später auf der Streetparade sollte noch eine weitere Flasche – frei Haus – dazukommen, sowie drei Hände voll Kartoffelchips aus der Tüte. Als es mir allmählich jedoch gedämmert war, dass den vier Jugendlichen der Gruppe „Edelweiß“ – wie einer der vier uns scherzhaft zu nennen pflegte – nach ganz anderen Tüten der Sinn stand und es sich abzeichnete, dass die diesbezügliche Orterkundung den Rest der Nacht dominieren sollte, empfahl ich mich freundlich, um fortan alleine nach so etwas wie Spaß zu suchen. Dass ich diesen gefunden hätte, käme dann doch einer schamlosen Übertreibung gleich. Genauer gesagt war mir wegen dem Geld das ich zusätzlich für den Eintritt in die Clubs ausgegeben hatte regelrecht schlecht geworden und besonders übel ausgerechnet aufgrund dessen, weswegen wir doch alle hauptsächlich hier waren: der Technomusik.

Ich schloss die Nacht mit dem hereinbrechenden Sonnenaufgang und der Erkenntnis, diese „hundeaggressive“ Lautstärke aus synthetisch verzerrten Bässen, sowie damit einhergehende … Schlaflosigkeit voraussetzende … Nachtschwärmereien – meines Alters wegen oder, na ja, warum auch immer – nicht mehr (länger) zu ertragen.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS

Mittwoch, 25. Februar 2009

Textdiskussion im Duftenden Doppelpunkt

Raphael Vogt, einer der Teilnehmer des von uns 2006/2007 ausgeschriebenen Literaturpreises „Der Duft des Doppelpunktes“ zum Thema Literatur der Arbeitswelt, legt mit „Die Tiefe des Beckens – Fragmente einer Novelle“ die „Bruchstücke“ einer umfangreicheren literarischen Arbeit vor. „Die Tiefe des Beckens“ wird vierzehntägig, in zehn Teilen, jeweils am Mittwoch hier im Blog erscheinen.

Raphael Vogt über seinen Text: „Wie tief ist ein Becken, … ab wann trägt das Eis? Und: Was bin ich bereit zu riskieren? – Ein Bademeister wirft Blicke in die Tiefe und weit über den Beckenrand … hinaus.“

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und verknüpfen diesen Wunsch mit der Bitte, Ihre Meinung zum Text entweder mittels der Kommentarfunktion hier im Blog zu posten oder dem Autor via Mail direkt zukommen zu lassen.

Raphael Vogts Biographie:
1976: in Freising geboren; erste Schritte in München
1993: Praktikum in einem Grafikbüro
1994: Symposion Weissenseifen mit Schwerpunkt Zeichnung und Malerei, Bildhauerei, sowie Literatur
1995: Steinmetzlehre; parallel dazu erste Ausstellungen freier Malerei
2000: Heilerziehungspflege im Behindertenbereich ( für die Butter auf das Brot )
2003: Soziales Filmprojekt mit der Regiestudentin Julia Aigner
2004: Kamerabühnenpraktikum beim ndF München; erster Drehbuchentwurf nach einer bislang unveröffentlichten Erzählung
2006: „über Wasser halten“ durch Hausmeisterei, Badeaufsicht und Kontemplation über „die Tiefe des Beckens“
2008: Weblog arts united – creative blog zu eigenen, multimedialen Kunstprojekten

1. TEIL: NOTIZBUCH IN GRÜN

Nun sitze ich also im Zug Richtung Ulm, dann Richtung Konstanz, falls es dabei bleiben sollte, denn so genau weiß ich das noch nicht. „Hauptsache weg“ dachte ich, drum sitze ich hier und der Zug rollt nun los, verlässt den Münchner Hauptbahnhof. Wohin weiß ich, nur wohin ich will, weiß ich noch nicht. Aber das ist ein mir durchaus vertrauter Zustand, wenn nicht gar meine Bilanz, die Bilanz verregneter Tage vergangener Jahre zumindest. Nicht dass ich verregnete Tage nicht lieben würde. Ich benutze das Bild hier eigentlich nur, weil man im Allgemeinen mit Regen die Farbe grau, das Grau des Himmels, assoziiert, falls es grau als Farbe überhaupt geben sollte, da etwas, das lediglich aus einem Gemisch der Nicht-Farben schwarz und weiß besteht, eigentlich die vollkommene Abstinenz von Farbe impliziert. Aber ich schreibe nun einmal gerne über Nichtvorhandenes und überhaupt, was ich gern wäre, denn ich bin nicht zuletzt auch ein Schriftsteller, wie ich nun beschlossen habe. Nicht mehr und nicht weniger wie ich eben auch schon einmal beschlossen habe, ein Maler, ein Bildhauer, Regisseur oder Musiker zu sein.

In Wahrheit bin ich ein Zugreisender, zumindest, ein Fahrgast der Deutschen Bundesbahn bzw. dessen, was sie uns davon noch übrig gelassen haben, jedenfalls, und der Besitzer eines vor kurzem für 35 Euro erworbenen Schönes-Wochenende-Tickets.

In Wahrheit bin ich ein Wartender. Ich warte auf irgendetwas. Ich warte darauf, dass irgend etwas passiert. Und ich frage mich, wie weit ich die Seile meines mühsam geordneten Lebens strapazieren darf …

… für einen guten literarischen Stoff?

Zurück in Konstanz und ziemlich müde. An der Uferpromenade sitzen zwei Mädchen barfuss auf einer Holzbank und trinken Bacardi; dieses Bacardi-Limo-Gemisch welches wie Kalkwasser aussieht und gefährlich gut schmeckt. Ich selbst lege mich auf eine andere und schlucke verwerfliche Gedanken.

Die Augen geschlossen, ich höre nur die sanften Wellen des großen Sees den Steinwall am Ufer hinauf klettern. Über mir der Himmel, offen und – würde ich jetzt sagen „voller Möglichkeiten“ wäre dies angesichts dessen was möglich wäre darüber zu schreiben zwar eigentlich zu platt formuliert, … aber dennoch denkbar und somit nun denn wiederum das einzig Mögliche.

Noch stecken die Enten ihre Köpfe ins müde Gefieder und auch die Möwen kreischen noch nicht in der Morgensonne. Auch wenn ich es vermutlich schnell in Erfahrung bringen könnte interessiert es mich nicht, wie spät es ist. Ich werde noch etwas liegen, auf dieser Bank und später, … anderswo, … irgendwo an der Uferpromenade … einen ersten Kaffee trinken.

Zimmer 15. Ich schalte den Fernseher ein. Olympia. Ein Schwimmer der USA, 23 Jahre alt, trainiert sechs Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Welch ein beneidenswerter Ehrgeiz! Aber zu meiner Erleichterung erfahre ich durch den Kommentator auch, dass der Supermann das Leben noch lernen müsse, zum Beispiel den Unterschied von Geschirrspülmittel und Flüssigseife. Durchaus ein Trost. Ich schalte den Fernseher aus, versuche noch ein wenig zu schlafen, was mir aber nicht gelingen will, da ich zu große Angst habe, das Frühstück zu verpassen. Es ist 7 Uhr 50, Frühstück gibt es bis zehn und es war eine kurze Nacht.

Ich schalte den Fernseher ein. Wieder Olympia. Diesmal: Synchronspringen. Ich versuche, die Bewertungen der Kampfrichter nachzuvollziehen. Vergeblich. Ich kann nicht den geringsten Unterschied zwischen den Leistungen der unterschiedlichen Mannschaften erkennen. Ich muss bei allen den Hut ziehen, die Luft anhalten und staunen. Wenn die Kamera nicht ihre Gesichter einfinge, würde ich wahrscheinlich nicht bemerken, dass es nicht immer dieselben Springer sind. Denn für mich sehen sie alle gleich aus. Gleich gut, mutig, stark und für meine Maßstäbe irgendwie übermenschlich. Sie machen zigfache Salti und Schrauben vom Zehnmeterbrett. Ich kriege schon weiche Knie, wenn ich den Dreimeterturm besteige und Kopfsprünge wage ich allenfalls vom Startblock. Aber wann schwimme ich schon! Ich bin heilfroh, dass ich noch nie jemanden retten musste!

Ich gehe etwa drei Meter an der kurzen Seite des Beckens entlang und im Anschluss wieder zurück. Dann etwa 15 seitlich, die lange Beckenseite entlang. Oft zähle ich die Schritte. Denn es kommt – glücklicherweise – nur sehr selten vor, dass etwas passiert. Hier ein Platschen, dort ein Geschrei. Alle fünf bis zehn Minuten werfe ich einen Blick hinüber, zur großen Bahnhofsuhr. Diese hängt unter dem Scheinwerfer am Flutlichtmasten, welcher sich automatisch in der Dämmerung einschaltet, um das Außenwarmbecken – meiner Meinung nach jedoch nicht besonders romantisch – ins rechte Licht zu setzen. Jeder kennt das. Je öfter man auf die Uhr guckt, desto langsamer vergeht die Zeit. So scheint es zumindest. Aber warum sollte etwas, das nur so scheint nicht letztlich doch Wirklichkeit sein?

Alexander Peers und Erwin J. Uhrmanns Atem der Ostee

Samstag, 20. September 2008

Beobachten besteht vor allem darin, wahrzunehmen, was man eben nicht zu sehen erwartet.

„Dieses Zitat aus dem Buch Ostseeatem von Alexander Peer und Erwin Uhrmann steht stellvertretend für die Atmosphäre der literarischen Texte. Sich selbst neu erfahren ist der Charakter jeder Reise, jeder Begegnung. Die Ostsee verankert den geographischen Raum der Erzählungen. Vilnius, Riga und Tallinn spielen darin zentrale Rollen. Es ist jedoch kein Buch über das Baltikum, sondern ein Buch, welches das Baltikum mitgeschrieben hat und wo noch einmal der Mythos vom geheimnisvollen Baltikum intakt davon kommt.

Reiseerzählungen, Liebesgeschichten, essayistische Auseinandersetzung mit den Wendejahren und Kriegs- und Nachkriegsdramen finden darin genauso Platz wie das Gedicht „Die Datschas“, das noch einmal Mut macht, von einem vereinten Europa zu träumen.

‚Sprachlos sind wir immer dann, wenn wir etwas zu sagen hätten‘ heißt es etwa in der melancholischen Kurzgeschichte ‚Meines Großvaters Schoß‘, die von einem schweigsamen, durch die Kriegsjahre mutlos und verknöchert gewordenen Mann erzählt, der durch die kindliche Unbefangenheit des Enkels wieder Zugang zu Gefühlen findet. „

Die erweiterte Neuauflage von „Osteeatem“ erscheint Ende September!

Alexander Peer, Erwin J. Uhrmann: Ostseeatem
Ca. 250 Seiten, gebunden, Vor- und Nachsatz, Lesebändchen, Prägedruck
EUR 12,95, ISBN-13 978-3-85129-787-4
Wieser Verlag

Die Buchbestellung ist ab Oktober auch bei Alexander Peer möglich.
E-Mail Kontakt

Siehe auch Petra Öllingers Besprechung der 1. Auflage

Sagen und Erzählforschung

Mittwoch, 9. April 2008

433 Sagen der Gegenwart / 15865 Traditionelle Sagen / 1339 Märchen / 2500 Dokumentationen

Sagen.at ist die größte deutschsprachige Sagensammlung im Internet mit derzeit über 18.000 Texten. Digitalisiert werden Literatur der Erzählforschung seit dem 19. Jahrhundert sowie allgemeine Texte zur Europäischen Ethnologie (Volkskunde).

Siehe auch den Beitrag „Frauensagen“

Begegnung in Reichenberg

Donnerstag, 13. März 2008

Grandpa meets Dr. K.

88 Jahre nach seinem Ableben von seiner Enkeltochter geschrieben.

© Margarete Steger

Am Jeschken bei Reichenberg

Der Berg hatte einen Wolkenkragen angelegt. Zwei Maenner gingen den Weg zum Gipfel, in Richtung Jeschkenbaude. Feuchter Schotter knirschte und quietschte. Der moosige Duft floss in Nase und Mund. Die Nadelbaeume dufteten wie sie nur im Oktober duften, wenn alle Oberflaechen feucht und nass sind. Zwei geroetete Nasen tropften. Herrentaschentuecher fingen Herrennasentropfen. Ließ der eine Herr seine Nasentrompete geraeuschvoll ertoenen, so versuchte der andere dezent und leise die herbstlich rot gefaerbte Gesichtsoeffnung einzusetzen.
Es fielen nur wenige Worte.
„Bleiben Sie doch besser knapp hinter mir, Herr Doktor!“ Weil es in Reichenberg geschah, wurde geogt. Max sagte zu Dr. K.: „Bleiben Sie og besser knapp hinter mir, Herr Doktor.“ Aus dem doch wurde das og.
Der Angesprochene schmunzelte insgeheim ueber die Sprache der Grenzbewohner hier im Norden Boehmens.
„Herr Oberbuchhalter, Sie kennen den Berg doch genau?“
Max wehrte sich gegen die Anrede, die auf seinen Beruf hin deutete. „Verehrter Herr Doktor! Darf ich Sie bitten, mich bei meinem Namen zu rufen. Mein Name ist …“, er blieb stehen und drehte sich um.
Dr. K. hatte nicht alles verstanden. Die dumpfe Herbstluft hatte die Haelfte verschluckt.
„Gut, ich werde Sie nicht mehr Herr Oberbuchhalter nennen, obwohl Sie einer sind, oder etwa nicht? Nun sagen Sie mir Ihren Namen. Wenn ich bitten darf, Ihren richtigen. Bitte sagen Sie nicht ‚Man nennt mich’. Wie man Sie nennt, das habe ich ja schon gehoert.“
Max schluckte und sagte: „Gehen wir doch weiter. Ich werde neben Ihnen gehen. Der Weg ist hier breit genug. Sie koennen mich so auch besser verstehen.“ Weiterlesen »

Wo ist die deutsprachige Lyrik des neuen Jahrhunderts?

Freitag, 1. Februar 2008

Diese Frage stellt sich Franz Krämer in seinem neuesten Beitrag, stellt interessante Bezüge zu LiedermacherInnen, Cafes und Kaufhäusern her – und macht so neugierig auf das angeblich verstaubte Thema Lyrik.

Es wird oft bedauert, daß es kaum mehr Lyriker von Rang gibt, daß die Lyrik keinen Markt mehr besitzt, daß es beinahe unmöglich ist für einen Autor, mit Lyrik zu überleben. Ist die Lyrik, das Gedicht wirklich auf einem Rückzugsgefecht? Haben sich nicht in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts neue Formen der Lyrik etabliert, die wir nur nicht als solche wahrnehmen. Abgesehen von Poetry Slams glaube ich, daß Autoren und Autorinnen seit dem Aufstieg der Popkultur neue, großartige Poesie hervorgebracht haben. Denken wir nur daran, daß Bob Dylan zum bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts gewählt wurde.

Wir sind gewohnt Gedichte in Buchform zu konsumieren, zumindest ich, einer der an der Wende zu den letzten dreißig Jahren seines Lebens steht. Doch die bookletts der früheren Schallplatten, heute sind es Beilagen zu Compact Discs, sind nichts anderes als kleine Lyrikbände. Denken wir uns die Musik weg und wir werden erkennen, daß wir alle von Gedichten in unserem Verhalten, unserer Weltsicht, unserer Welterkenntnis geprägt wurden. Jeder von uns hört heute täglich Lyrik in tausendfacher Form. Wer den Radio aufdreht, wer MTV oder VIVA konsumiert, wird von Lyrik überschwemmt. Das reicht von Erleuchtungslyrik eines Xavier Naidoo bis hin zu kraftvollen Texten einer Tori Amos oder des neu auferstandenen Cat Stevens alias Yusuf Islam.

Im Gegensatz zu früher ist es gar nicht mehr möglich, sich dem Gedicht, der Lyrik zu entziehen. Allüberall quellen die lyrischen Ergüsse der Popstrategen aus den Lautsprechen, ob in Kaufhäusern oder Cafehäusern, aus Werbesendungen oder als Filmbeigaben. Das Gedicht, die Lyrik hat sich über die englische Sprache noch dazu globalisiert, hat sich seinen eigenen, eigenständigen Massenmarkt erobert. Früher gab es den elenden deutschen Schlager, von dem wir uns angeekelt abwendeten, wenn er uns begegnete, zumindest die, die sich für progressiv hielten. Heute ist es der Pop Mainstream, dem wir den Rücken kehren. Aber jeder hat so seine Popidole, wissentlich oder unwissentlich. Meine Helden sind altersbedingt: Dylan, Beatles, Queen, Pink Floyd, Randy Newman, Neil Young. Alles große Poeten im Zeichen der evolutionären Entwicklung des Menschen (um den höchsten Schöpfer nicht bemühen zu müssen). Jede/r hat schon mal ein Lied mitgesungen, wie selbstverständlich. Heute nennen wir sie Klassiker, zum Beispiel „California Dreaming“ – als Lied unerreicht, aber auch als Text kann es mit den großen Dichtern der bürgerlichen Hochkultur mithalten. Lyrik wird nicht dadurch elend, daß sie aus der Popkultur kommt, sondern dadurch, daß sie miserabel gedichtet ist.

Nur weil sich Lyrikbände nicht mehr verkaufen, nur weil die Popkultur verflacht ist, heißt das nicht, daß großartige Lyrik keinen Ort mehr hätte. Natürlich kann nicht jeder Autor Sänger werden, aber nur weil die Schriftsteller im falschen Berufsfeld sind, heißt das noch nicht, daß eines ihrer wichtigsten Genres verschwunden ist. Denken wir nur an die Hochblüte der österreichischen Liedkunst: Arik Brauer, Wolfgang Ambros, Andre Heller, Hansi Lang, Stefan Weber, Georg Danzer und wie sie alle heißen oder hießen. Das waren keine Geisteszwerge. Da sind einige großartige Gedichte entstanden, denken wir nur an die Textzeile aus dem Lied „Elfi“ von Georg Danzer: „Aun an haßen Tog im August aun da Wien, waun da Summa riacht noch Kinderfreibod, Tear und Benzin.“ Würden wir die Texte von damals in ein paar Lyrikbände pressen, keiner würde sie kaufen, sie wären trotz unglaublicher Bekanntheit kein Massenprodukt.

Trotzdem ist vieles von damals heute noch unerreicht und liest sich auch als Text hervorragend. Lyrik ist Teil unserer Kulturerfahrung wenn auch in anderer Form. Ich hoffe, daß bald wieder einmal von einem oder einer zu hören ist, der/die es versteht, wie Falco, Sigi Maron – oder, um einen abwegigen zu nennen: Heinz R. Unger, der Dichter hinter den Schmetterlingen, mich zu berühren, zu erreichen und zu prägen.

Franz Krämer Kontakt

Weihnachtsfrieden… – Peter Hofberger

Montag, 24. Dezember 2007

Eine satirische Betrachtung des Heiligen Abends

Da draußen vom Walde, da komm’ ich her
Und muss euch sagen, es weihnachtet sehr.
All überall, auf den Tannenspitzen
Seh ich elektrische Lichtlein blitzen.

Der Papa schmeißt auch schon die Nerven weg
Siebentausend Autos, man kommt nicht vom Fleck.
Bald ist es soweit, er zetert und flucht
Dieweil er vergebens nach Parkplätzen sucht.

Mama wühlt in Körben und Ladentischen
Um noch schnell das letzte Geschenk zu erwischen.
Die Luft ist vom Klingeln der Kassen erfüllt
Wo’s aus den Lautsprechern Stille Nacht brüllt.

Die Kinder, sie nörgeln und wünschen sich noch
Zweihundert Geschenke, das kennen wir doch.
Da sieht man noch jenes, da sieht man noch das
Weihnachten wird ohne Boden ein Fass.

Der Papa ist sauer, er ärgert sich sehr,
melkt den Bankomat, doch der gibt nichts mehr her.
So zeigt sich das Fest von der traurigen Seite,
Rien ne vas plus, der Papa ist pleite.

Zu Haus ist die Welt aus den Fugen geraten
Im Backrohr verbrennt grad der Festtagsbraten
Die Oma, sie rettet die Heilige Nacht
Sie hat auf die Schnelle ein Gulasch gemacht.

Weihnacht, es ist doch die stillste Zeit
Man ist nun von Stress und von Hektik befreit
Der Abend war sinnlich, die Kinder war’n nett
Und Mama? Ja, die fällt todmüde ins Bett…

Peter Hofberger ist auch einer der „Literarischen Gäste“ im Salon von Petra Öllingers virtueller Wohnung.

Die Haende des Grossvaters

Freitag, 10. August 2007

Erzaehlung aus dem Erzgebirge

Von Margarete Steger

Das Dorf hatte unter dem Krieg gelitten. Das Schlimmste war wohl, dass so viele Vaeter, Soehne und Brueder nicht mehr nach Hause kamen. Sie blieben im Felde. Marianne dachte damals, dass alle Kriege auf Kornfeldern stattfinden. Die Namen der vielen Gefallenen hatten keinen Platz mehr am Kriegerdenkmal. Man fuegte einen grossen, glattpolierten Stein hinzu. Der Steinmetz, der auch der Totengraeber des Dorfes war, gravierte in grossen Lettern als oberste Zeile: Den Gefallenen beider Kriege. Das Kind Marianne wollte vom Großvater wissen: „Großvater, kommt keiner mehr? Ist das der letzte Krieg?“ Der hochbetagte Altbauer des Fischergutes war der einzige Mann am Bauernhof. Der Vater und auch die Knechte waren alle zum Kriegsdienst eingezogen worden. Der Altknecht hatte sich sogar darueber gefreut, dass er die Musterung bestanden hatte. Er steckte sich ein gruenes Zweiglein vom Buchsstrauch an den Hut, tanzte durch den Ort und versoff beim Lindenwirt einen halben Jahreslohn.

Von einigen Maennern hatte man Feldpost erhalten und wusste, dass sie am Tag der Aufgabe des Briefes noch lebten. Das Kriegsende nahte und mit ihm naeherte sich auch das Ende des Mordens und das Gräuel des Krieges. Die Ueberlebenden schleppten sich nach Hause. Wer nicht in Kriegsgefangenschaft geraten war, versuchte das zu erreichen, was einmal sein zu Hause war, um zu erfahren, wer noch lebt und wer am Schlachtfeld geblieben war. Viele Menschen, besonders die aus den Lagern befreit wurden, konnten keine Heimat mehr finden, denn alles war zerstoert und die Angehoerigen umgebracht.

In dieser Zeit war das vierzehnjaehrige Kind Marianne in der Obhut des Großvaters geblieben. Es gab am Fischergut eine Kammer, die ein richtiges Versteck war. Sie war auch als solches gebaut worden. Direkt ueber der Scheuneneinfahrt, durch Stroh und Heu verdeckt, war ein Verschlag, schmal, doch lang, dass er nicht auffiel. Dort verbargen sich neun Frauen. Das Kind Marianne und die greise Schwester des Altbauern, die Annatant, waren in der Stube. Im Verschlag hatte man zu essen, denn Marianne brachte zur Scheune taeglich einen gefuellten Henkelkorb. Die Angst war gross. Die Besatzungssoldaten, die nun ins Land kamen, waren durch Krieg und Entbehrung hemmungslose Pluenderer geworden. Sie zogen in Horden uebers Land und wollten das, was sie monatelang entbehren mussten: Nahrung, Schnaps und Frauen. Manche gaben sich mit einer Taschenuhr zufrieden.

Die Besatzer wurden schon im nahen Ort gesichtet. Zum Hof war es von dort nicht mehr weit. Furcht ueberkam die Alte Annerl. Sie begann wie wild zu beten und dabei zu jammern. „Nimm dich zusammen Schwester. Denk an das Kind.“ Das Gesicht des Kindes war blass geworden. Sein Mund zu einem Strich geschrumpft. Marianne drueckte sich noch naeher an den Großvater. Der nahm ihre zarte Hand in die seine. Sein fester Blick sagte: „Verlass dich auf mich.“ Ein dumpfes Trommeln war zu hoeren noch ehe das Motorengeraeusch zu den Wartenden drang. Die Urangst der Menschen vor herannahenden Kriegern erfasste nun auch den alten Herrn. Er sass ruhig und wartete auf das nahende Unheil. Die Tuere flog auf. Ein Huehne in Uniform, mit einem auf die Menschen gerichteten Gewehr stampfte in die Stube. Er rief laut Silben und Worte, die keiner verstand. Der Großvater gab ihm seine Taschenuhr. Sie verschwand in der Uniform. Dem Eindringling wurde eine Flasche Schnaps gereicht. Der Fremde, durchschritt das Zimmer. Er blieb vor dem Tisch stehen, an dem das verschreckte Grueppchen sass. Er hielt kurz inne. Dann deutete er mit seinem Gewehr auf Marianne. Das Kind wusste was gemeint war. „Mitkommen“ hieß diese Geste. Das Kind dachte nicht weiter. Marianne stand auf und wollte ihre Hand aus der des Großvaters loesen. Der alte Herr versuchte, den Knoten der Finger mit seiner anderen Hand zu entflechten. Der Alte dachte an die nun kommende Vergewaltigung des Maedchens. Er dachte an die Geschlechtskrankheiten, die die Soldaten haeufig verbreiteten. Es koennte auch eine Schwangerschaft entstehen. Der alte Herr dachte an seinen Sohn, der ihm das Kind anvertraut hatte. Haette er Marianne nur in dem Versteck belassen. Das Kind wollte raus. Es wollte den Gestank der versteckten Frauen nicht mehr haben.

Des Altbauerns Gedanken rasten dahin. In diesen Minuten zog nicht nur sein Leben vor seinem geistigen Auge vorbei, sondern auch das Leben aller am moerderischen Krieg beteiligten. Warum war das Kriegsunheil wie ausgeschuettete Jauche in alle Ritzen und Taeler gedrungen? Wer wollte den Krieg? Wer hasste wen? Wer sollte oben sein, wer unten? Warum wurde seine Heimat zerstoert? Gibt es Leben ohne Wert? Weshalb das Morden? War der fahrende Haendler, der regelmaessig das Gut aufsuchte, nicht wert sein Leben zu behalten; nur weil er Jude war? Der Großvater blickte in das flache Mongolengesicht und dachte: „Du wirst wohl auch eine Mutter oder eine Schwester haben.“ Großvater stand auf und Marianne mit ihm. Nun wollte er die verschlungenen Haende loesen. Auch Marianne war bemueht, aus der Fingerumarmung zu kommen. Der Soldat wurde ungehalten und schlug mit dem Gewehr auf den Tisch. Dem Soldaten wurden die verschlungenen Finger gezeigt. Er selbst versuchte nun sie zu loesen. Als er merkte, dass die Handflaechen und die Finger zusammengewachsen waren, wurde er bleich und verliess das Haus. Die Hand des Alten und die der Enkeltochter loesten sich, nachdem die Furcht vor dem Unheil vergangen war.

Nach etlichen Tagen wagten sich die versteckten Frauen aus ihrem Verschlag. Die Geschichte der verschlungenen Haende wurde verbreitet und macht die Runde durch das Erzgebirge. Marianne blieb zeitlebens mit ihrem Großvater eng verbunden. Sie ist heute Grossmutter und ihrem Großvater dankbar, dass sie nicht hassen muss.