Literaturgefluester

Erica und ihre Geschwister

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„Erica und ihre Geschwister“ von Elio Vittorini, ist eines von den Wagenbach Taschenbüchern mit denen ich meine Ein-Euro-Buchlandungskäufe vor drei Jahren begonnen habe und mit dem ich meinen kleinen Sizilienschwerpunkt fortsetzen will.
Ein interessantes Buch, des 1908 in Syrakus geborenen und 1966, in Mailand verstorbenen systemkritischen Schriftstellers, der, wie ich Wikipedia entnehme, zu den wichtigsten Vertretern des literarischen Neorealismus zählt.
1936 ist das Buch bei Guilio Einaudi editori in Turin erschienen, steht in der Wagenbach Taschenbuchausgabe von 2001, Wikipedia kann ich entnehmen, daß das Buch 1952- 1955 vervollständigt wurde, 1956 auf Italienisch und 1984 auf Deutsch erschien und ist eine Geschichte über die bittere Armut der italienischen Arbeiter nach dem Weltkrieg und der Wandlung eines Kindes in die Prostituion, um seine Geschwister zu ernähren, zu denen es eigentlich keine Beziehung hat.
Die kleine Erica ist jedenfalls nach dem Krieg in einem kalten Winter in die große Stadt gekommen und träumt ein Leben vom Glück im Winter und Vögeln im Schnee, während sie mit ihren Eltern, der Schwester und dem Brüderchen in zwei Zimmern eines Hauses im Erdgeschoß wohnt und es als schönste Zeit empfindet, wenn die Mutter, die Wäsche im Zimmer zum Trocknen aufhängt, weil sie dann Zeit zum Märchenerzählen hat.
Der Vater arbeitet als Monteur in einem Hüttenwerk, es folgt die Zeit der Lohnverkürzung und des Stellenabbaus, so daß die phantasiebegabte Erica in der Nacht ins Schlafzimmer der Eltern hineinzulauschen beginnt und sich davor fürchtet, daß die, die Kinder wie bei Hänsel und Gretel in einem Märchenwald aussetzen könnten. Sie beginnt sich dagegen zu wappnen, sammelt Steine, prägt sich die Wege ein und wird immer größer und kräftiger, so daß sie mit dem neuen roten Kleid, daß sie von der Mutter bekommt, keine Angst mehr zu haben braucht.
Der Vater verliert indessen seine Stelle und beginnt in die Fremde hinauszuziehen, die Mutter bleibt der Kinder wegen zurück und verdingt sich als Geschirrwäscherin, bei einer Familie im Vorderhaus, wird aber bald vom Vater gerufen, so daß sie der inzwischen Vierzehnjährigen, die Geschwister anvertraut, einen Sack Polentamehl, Kohle, Holz und Petroleum in das Abbruchhaus, auf dem zum Verkauf stehenden Baugrund, in dem die Familie inzwischen wohnt, einlagert, eine Henne kauft sie auch und bezahlt beim Fleischer und beim Bäcker, die Schulden, so daß Erica die nächste Zeit das Suppenfleisch und das Brot anschreiben lassen kann, dann drückt sie ihr eineinhalb Lire in die Hand und steigt in den Zug, die Erica für eine Tasse Milchkaffee ausgibt, von dem das Meiste der kleine Bruder trinkt.
Erica putzt und wäscht, versorgt die Geschwister, ist sicher die Mutter nicht mehr wiederzusehen und auch froh darüber und wird als nächstes von den Nachbarinnen, um die Henne, die Kohlen und die Polenta betrogen, während sie noch hoffnungsvolle Briefe an die Mutter schreibt.
Die Geschwister gehen in die Schule und spielen den Rest des Tages im Freien und das Essen wird knapp. Die Nachbarinnen machen Versuche, sie als Dienstmädchen auszunützen, das dicke Mädchen, das mit einem Kind in der Umgebung wohnt, versucht sie dagegen aufzuhetzen, es wird auch von irgendwelchen Hilfsorganisationen gesprochen, an die sich die von den Eltern Verlassene wenden kann. Die Scham hindert Erica aber daran, eine Tasse der gestohlenen Polenta zurückzunehmen, sie will auch keine Hilfsangebote, sondern bindet sich ein rotes Tüchlein in die Haare und stellt sich an das Fenster, um die Soldaten und Serganten drei Stunden am Tag hineinzulassen und tut das so diskret, daß die Nachbarinnen nichts daran aussetzen können, obwohl sie die Arbeit, die sie nun verrichtet, um sich und ihre Geschwister zu ernähren, als schrecklicher empfindet, als würde sie sich enthaupten lassen…
Die Geschichte eines Mädchens, dem es trotz aller Demütigungen gelingt, sich seinen kindlichen Mut und seine unerschütterliche Zuversicht zu bewahren, steht auf der Buchrückseite, ganz so habe ich das nicht empfunden.
Geschrieben ist diese Sozialkritik in einer sehr symbolhaften, fast märchenhaft anmutenden, distanzierten Sprache, in der die Systemanklage des Nach- und Zwischenkriegsitalien drastisch und fast unwirklich klingt, obwohl ich mir bei der Literatur im Herbst, vor eineinhalb Jahren sagen habe lassen, daß das in der Ukraine, wo die Eltern, in den reichen Westen arbeiten gehen und die Kinder bei irgendwelchen überforderten Großmüttern zurücklassen, so passieren soll.

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