Manchmal findet man im offenen Bücherschrank ganz seltsame Bücher. Raissa Orlowas „Als die Glocke verstummte – Alexander Herzens letztes Lebensjahr“, aus dem Karin Kramer Verlag Berlin, 1988 erschienen. Raissa Orlowa?, Alexander Herzen? Nie gehört, also Google und Wikipedia bemühen und da findet man heraus, daß Raissa Dawydowna Orlowa-Kopelewa, 1918 in Moskau geboren, 1989 in Köln gestorben, russische Schriftstellerin und Amerikanistin, die zweite Ehefrau von Lew Kopelew war und mit ihm 1981 aus der Sowetunion ausgebürgert wurde. Sie lebte dann in Köln und war mit Heinrich und Annemarie Böll befreundet. In ihrem ersten Buch „Die Türen öffnen sich langsam“ hat sie beschrieben, wie schwer es für sie war in Deutschland anzukommen.
„Als die Glocke verstummte“ ist ihr viertes Buch und da kann man sich zu Alexander Iwanowitsch Herzen googlen, 1812 in Moskau geboren, 1870 in Paris gestorben, der ein russischer Philosoph und Schriftsteller war und leider, wie Raissa Orlowa schreibt „habe ich im Westen mit Betrübnis entdeckt, daß Alexander Herzen, ein Weltbürger, der über Westeuropa so viele brillante Seiten geschrieben hat, fast unbekannt ist.“
Zuerst ist aber der Sohn eines russischen Adeligen und einer aus Stuttgart kommenden Deutschen in Russland ziemlich feudal aufgewachsen. Seine Eltern schlossen zwar keine richtige Ehe und nannten ihn Herzen, weil er ein Kind des Herzens war. Er studierte und schloß sich intellektuellen revolutionären Kreisen an, wurde verhaftet, sowie verbannt und verließ 1847 mit seiner Familie Russland in Richtung Europa. Hier ist dann der Weltbürger herumgefahren,lebte dreiundzwanzig Jahre im Westen, in Nizza, Zürich, Vichy, Florenz, Genf, Brüssel, Aix -les -Bains und Paris und gab mit seinem Freund Ogarlow, die erste freie Zeitschrift „Die Glocke“ heraus und gründete in London, die freie russische Druckerei. Das steht in einer Art Vorwort auf der ersten Seite, wo Raissa Orlowa auch erzählt, daß sie mit ihrer Arbeit über Herzen schon Ende der Siebzigerjahre in Moskau begonnen hat.
„Damals ahnte ich nicht, daß ich je in Genf die Häuser suchen würde, in denen Herzen gelebt hat.“
Daß das Buch nur das Jahr 1869, Herzens letztes Lebensjahr, beschreibt, ist seltsam und originell, Raissa Orlowa meint, daß es ein sehr wichtiges Jahr ist. Für jemanden wie mich, der den Namen Herzen vorher noch niemals hörte, in der Sowetunion der Siebzigerjahre war er Schullektüre und sich auch mit der russische Revolution nicht so auskennt, ist das ein wenig schwierig. Zum Glück gibt es aber Wikipedia, wenn ich das Buch in den Achtzigerjahren gelesen hätte, hätte ich mir viel schwerer getan. Gibt es zwar eine Art Einleitung, dann geht es aber gleich los mit Briefen und Textauszügen und wenn man keine Ahnung von Alexander Herzen und der „Glocke“ hat, schwimmt man ein wenig.Ich bin aber historisch interessiert und es tauchen auch immer wieder bekannte Namen auf. Michael Bakunin zum Beispiel. Mit Sergej Netschajew einem anderen Revolutionär, der im Leben Herzens offenbar eine große Rolle spielte, tue ich mir schwerer und von der Literatur- oder was auch immer Zeitung „Die Glocke“ habe ich auch nicht viel mitbekommen, was aber wahrscheinlich an mir liegt und Raissa Orlowa ohnehin immer Textbeispiele gibt.
Herzen ist jedenfalls in einem Russland aufgeachsen wo es noch Leibeigene gab und die Gutsherren die Bauern prügelten, er hat auch die 1848 Revolution miterlebt und die russische vorausgeahnt. Dann gab es Schwierigkeiten mit seinen Ehefrauen und seinen Kindern und im letzten Lebensjahr war er auch krank. Er hatte Diabetes und offenbar ein wichtiges Werk „Briefe an einen alten Genossen“ geschrieben, dem im Buch ein ganzes Kapitel gewidmet ist.
Herzen ist im Jänner 1870 gestorben. Im Herbst 1870 erschien in Genf das Buch I. A. Herzen „Sammlung nach dem Tod veröffentlichter Arbeiten“, herausgegeben von seinen Kindern. In seiner Heimat wurde er erst nach der Revolution von 1905 veröffentlicht und war in der Sowetunion, wie Raissa Orlowa in ihrem Nachwort schreibt, Pflichtlektüre. Es gibt die Memoiren eines Russen und da den Band drei „Gedachtes und Erlebtes“, der Raissa Orlowa durch ihr ganzes Leben führte.
„Seit der Kindheit habe ich es immer gelesen, in Ausschnitten oder im Ganzen.“
„Ist heute eine Zeit für Alexander Herzen?“, fragt Raissa Orlowa weiter, die von 1976-1988 an dem Buch geschrieben haben dürfte.
„Wenn ich dazu beitragen könnte, daß Herzens Bücher in Deutschland neu gelesen würden, wäre ich glücklich“, lautete der letzte Satz.
Das ist ist wahrscheinlich nicht gelungen. Mir war der Name Herzen jedenfalls unbekannt. Bei Wikipedia kann man aber etwas über ihn finden und dank des offenen Bücherschrankes und dem oder der, die es hineinlegten, habe ich ein Stückchen Nachhilfe in Sachen Russische Revolutionäre und russische Literatur bekommen. Ja, richtig Dostojewski und seine „Dämonen“ kommen auch immer vor, sowie L. Tolstoj.
Als die Glocke verstummte
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