Die Situation war surreal
Andreas Petersen zeigt in „Die Moskauer“ monströse Mechanismen stalinistischer Macht in der Sowjetunion auf und belegt deren verhängnisvolle Übertragung in die junge DDR
Von Volker Strebel
Als am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde, war man stolz auf diese neue sozialistische Republik, die sich den Antifaschismus auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Abgeschüttelt waren die Schrecken des Nationalsozialismus und des Weltkrieges. Selbstbewusst präsentierte sich die DDR als erster deutscher Friedensstaat.
Doch von Beginn ihrer Existenz an stand die DDR im machtpolitischen wie ideologischen Schatten des sowjetischen Marxismus-Leninismus. Die alsbald eintretende Ernüchterung angesichts einer Wirklichkeit, die von Unfreiheit und Unterdrückung gekennzeichnet war, wird von Zeitzeugen in zahlreichen Veröffentlichungen dokumentiert.
Die vorliegende Studie von Andreas Petersen geht der Frage nach, inwieweit die sowjetischen Erfahrungen der Gründergeneration in der DDR nachwirkten und deren Entwicklung von Beginn an imprägnierten. Unter der Fragestellung „Wie das Stalintrauma die DDR prägte“ stellt Petersen anhand konkreter Lebensläufe in vier Kapiteln und einem Prolog erschütternde Schicksale vor, bei denen das Schema von Opfer und Täter oft genug verwischte.
Zahlreiche führende Funktionäre und Politiker der späteren DDR, aber auch angeworbene Facharbeiter, Ingenieure oder Künstler aus dem linken Milieu hatten in den 1920er und 1930er Jahren in der Sowjetunion gelebt und im dortigen Exil zudem Hitlerzeit und Weltkrieg überstanden. Den deutschen Kommunisten hatte die Sowjetunion als das gelobte Land ihrer Sehnsüchte gegolten. Aus ihrer Sicht waren erstmals in der Geschichte der Menschheit nach einer sozialistischen Revolution die Ausbeuter entmachtet und verjagt worden. In Gestalt der kommunistischen Partei und ihrer Führer hatte das Volk die Herrschaft übernommen. Die dort angetroffene Wirklichkeit war freilich ernüchternd.
Überzeugte Kommunisten, die sich während ihrer Jahre in Deutschland als glühende Propagandisten des Sozialismus in der UdSSR hervortaten, waren im „Vaterland der Werktätigen“ unversehens in den Sog einer gigantischen Hexenjagd geraten. Konnte man bereits seit Lenins Herrschaft von einer „Dauermilitanz“ in der Sowjetunion sprechen, so waren vor allem die 1930er Jahre durch gewaltige sogenannte Säuberungswellen sowie inszenierte Schauprozesse gekennzeichnet, in denen Führungskader aber auch einfache Bürger jederzeit den absurdesten Anschuldigungen ausgesetzt werden konnten.
Es herrschte ein Klima vollkommener Unsicherheit, in dem unablässig von „feindlichen Agenten“, „Spionen“, „ideologischem Gift“, „Schädlingstätigkeit“ und „Verrat“ die Rede war, die es gnadenlos „auszurotten“ und „auszumerzen“ galt. Das Leben in der Sowjetunion war gerade unter den exilierten Kommunisten von einer ständigen ideologischen Überwachung, von Bespitzelung, Denunziation und Verrat gekennzeichnet: „Die Situation war surreal. Man hatte sich vor Verfolgung, Folter und KZ aus Nazideutschland in die Sowjetunion gerettet, wo man weggesperrt, ausgeliefert oder ermordet wurde. In dem Land, für das man sein Leben riskiert hatte, war man ein Feind“.
Mit Andreas Petersens Untersuchung Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte liegt eine überzeugende und zugleich packend geschriebene Gesamtsicht vor, welche die politischen Mechanismen einer monströsen ideologischen Verwahrlosung in Szene setzt. Führende kommunistische Politiker wie Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck oder Herbert Wehner, aber auch linke Künstler und Schauspieler wie beispielsweise Johannes R. Becher, Alfred Kurella, Friedrich und Else Wolf sowie deren Söhne Konrad Wolf und Markus „Mischa“ Wolf sahen sich dieser bedrohlichen Maschinerie ausgesetzt und hatten gleichzeitig Strategien entwickelt, sich zu retten. Oft genug bestanden diese darin, das Unheil von sich auf andere abzuwälzen. In der Sowjetunion hatte auf brutale Weise ein Vorgang stattgefunden, der auf subtilere Art in der späteren DDR ihren Fortgang finden sollte: die Zermalmung der menschlichen Persönlichkeit im Namen einer unkontrollierten Diktatur mit universalem Erlösungsanspruch.
Dabei ist bezeichnend, dass auch die parteiamtlichen Richtlinien nicht etwa in einem innerparteilichen Diskurs verhandelt worden waren. Selbst innerhalb des Machtapparates herrschte ein gewalttätiges Klima, das von Denunziation, Ränkespielen und Verschwörungsszenarien beherrscht war. Ein vorauseilender Gehorsam war erwünscht, konnte allerdings auch dramatische Folgen zeitigen, wenn er einem neuen ideologischen Schwenk entgegengesetzt war.
Petersen gelingt der Nachweis, dass sich diese Mechanismen einer hysterischen Überwachungs- und Verdächtigungsmaschinerie bereits während der Aufbauphase in der DDR zu wiederholen begannen. Es waren nicht nur „Klassenfeinde“, sondern auch treue Kommunisten, die nach überlebter Verfolgung und KZ-Haft der Nazizeit in der DDR in die Mühlen ideologischer Verfehlungen geraten konnten und erneut, zum Teil unter noch schrecklicheren Bedingungen, inhaftiert wurden. Die das Moskauer Exil überlebenden Führungskader hatten in der DDR die Schaltstellen der Macht besetzt und drängten gleichzeitig antifaschistische Widerständler, die im KZ überlebt hatten, oder auch ehemalige Spanienkämpfer in die zweite Garnitur ab. So verbirgt sich im vom Regime inszenierten Gedächtnis der Opfer des KZ Buchenwald letztlich ein Ablenkungsmanöver, indem auch hier in Anlehnung einer Formulierung von Wolf Biermann „mit der Wahrheit gelogen“ wurde.
Die quasireligiöse Charakteristik der marxistisch-leninistischen Weltanschauung funktionierte in der DDR ungebrochen. Es wurde wider besseres Wissen über die Wirklichkeit der stalinistischen Verbrechen geschwiegen oder gar gelogen. Als gelernte Stalinisten hatten sie ihr eigenes Schicksal, wie das ihrer Familien und Freunde im „Dauerzwiespalt zwischen eigenem Leid und Lagerdenken“ zugunsten der Parteiräson zurückgestellt. Bürgerliche Kriterien wie Charakterstärke oder Zivilcourage waren nicht gefragt. Es zählte einzig die gerade vorherrschende Parteilinie. Kadavergehorsam im Verbund mit Gleichgültigkeit und Zynismus, Kennzeichen einer totalitären Handhabung der Macht, die sich bis in die aktuelle russische Politik nachweisen lässt. Die treuen KGB-Schüler haben ihre Lektion gelernt.
Genossen wie Artur Hofmann, der sowjetische Haft und Folter überlebt hatte, berichtete noch als Pensionist an Schulen in der DDR von „den sowjetischen Freunden“ und was alles „zum Wohle des deutschen Volkes“ unternommen worden sei. Irmgard Schünemann, die als politische Emigrantin in der Sowjetunion Ehemann und Angehörige unter frei erfundenen Anschuldigungen verloren hatte, wurde in ihrem Betrieb von der SED-Leitung beauftragt, Gerüchte über Verhaftungen deutscher Kommunisten in der UdSSR entgegenzutreten: „Nein, sagte ich, so etwas habe ich da nicht getroffen“. Nur wenige einzelne, wie etwa Hedwig Remmele, wagten es zu Lebzeiten der DDR, aus dieser teuflischen Spirale von Lügen und Propaganda auszusteigen, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen.Viele überlebende Zeitzeugen hatten sich erst nach dem Ende der DDR zu Wort gemeldet. Stellvertretend sei hier Werner Eberlein genannt, Mitglied des Politbüros der SED. Im Unterschied zu seinem Vater Hugo Eberlein, der während der Säuberungen in der UdSSR hingerichtet wurde, hatte Werner Eberlein Haft und Verbannung überlebt.
Als in den 1970er und 1980er Jahren aus dem Machtraum des „real existierenden Sozialismus“ Formulierungen wie „Lebt nicht mit der Lüge!“(Alexander Solschenizyn) oder „Versuch, in der Wahrheit zu leben“( Václav Havel) bekannt wurden, die sich gegen die politische wie auch moralische Verkommenheit der „Systeme sowjetischen Typs“ (Zdeněk Mlynář) wandten, wurden diese im Westen ob ihrer unzeitgemäßen Pathetik eher belächelt oder aber als lästige Frequenzen abgetan, weil sie eine sich anbahnende Entspannung im Kalten Krieg hätten stören können.
Die Lebenswelt, die der Entstehung von derlei Stimmen zugrunde lag, tritt eindrucksvoll in Andreas Petersens Buch Die Moskauer zutage. Neben einer umfassenden Auswertung einschlägiger Archive und bisheriger Forschungsergebnisse liegen Petersens Aufschlüssen Hunderte Gespräche mit überlebenden Zeitzeugen und deren Angehörigen zugrunde. Es werden somit Einblicke in die Monstrosität eines politischen Systems gewährt, das der bürgerlichen Mentalität westlicher Menschen vollkommen unbekannt ist.
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