Arbeit am Erbe eines aufgelassenen Staates
Ines Geipel, die DDR und die „Generation Mauer“
Von Jens Flemming
Der Generationenbegriff ist in Gefahr, inflationär zu werden. Der darin zum Ausdruck gebrachten Zuschreibungen und Selbstdeutungen jedenfalls sind viele. Manches kommt eher feuilletonistisch, anderes in ernstem Wissenschaftsgewand daher: dort ein Modewort, hier eine analytische Kategorie. Schon das 20. Jahrhundert schien – neben anderem – ein Jahrhundert der Generationen und Generationenkämpfe zu sein, das 21. ist es offenbar nicht minder. Waren es damals die „Frontgeneration“, die „Kriegsjugendgeneration“ oder die „Nachkriegsgeneration“, die in den Ohren klangen, so sind es später meistens nicht sehr langlebige Attribute, in bunter Mischung die „Generation Golf“, die „Generation Berlin“, die „Generation Ally“, von der heute kaum jemand weiß, was sich dahinter verbarg, natürlich auch die „68er-Generation“, zuvor die „Flakhelfergeneration“, die „skeptische Generation“, eine Erfindung des Soziologen Helmut Schelsky, oder die „Generation der Mitte“, mit der sich der Antisemit und ehemalige NS-Kulturfunktionär Karl Epting 1953 zu Wort gemeldet hatte. Nun also die „Generation Mauer“, ein bereits 2014 erschienener, jetzt noch einmal aktualisierter Text von Ines Geipel.
Den Titel betrachtend, mag man sich zunächst gelangweilt zurücklehnen, die Lektüre jedoch belehrt rasch eines Besseren. Denn das Buch bietet ein aufregendes Stück Selbstexploration, die mit Berichten von Weggefährten und Altersgenossen verknüpft wird. Schon die Sprache und die Dramaturgie der Erzählung üben einen eigentümlichen Sog aus: kurze, bisweilen atemlos anmutende Sätze, wenig schmückendes Beiwerk, dafür Rhythmus, Metaphern, Paradoxien. Man wird hineingezogen, verfolgt gebannt die dargebotenen Skizzen, Gespräche, Erinnerungen, Reflexionen, die Fragen, einige rhetorisch, manche mit Antwort, andere ohne. Elaborierte Definitionen sucht man vergebens. Wohl erwähnt Ines Geipel den ikonischen Referenzpunkt zum Problem der Generationen aus dem Jahr 1928 mit der sattsam zitierten Trias „Generationslagerung“, „Generationszusammenhang“ und „Generationseinheit“, aber eher beiläufig und nicht zum wiederholten Mal in extenso referierend. Den Autor Karl Mannheim bedenkt sie vielmehr als „großen Generationenguru“ mit milder Ironie, zumal dieser, wie sie konstatiert, als Folie für die These gedient habe, dass in der DDR, einer unfreien Gesellschaft, die Ausbildung von Generationen gar nicht möglich gewesen sei.
Das mag so sein. Für Geipels Argumentation spielen dergleichen Erwägungen allerdings keine Rolle. Denn ihre Generation Mauer ist ersichtlich eine Konstruktion ex post. Sie lebt vom Diesseits und Jenseits, von den Jahren vor dem Fall der Mauer und denen danach. Entscheidend sind Erfahrungen und Verhaltensweisen, Leid und Behauptungswille, Erkenntnis und daraus gezogene Konsequenz. Die Rede ist von Angehörigen der Geburtsjahrgänge ab 1960 und später, das heißt von den Nachkommen der Kriegskinder, die den Aufbau der DDR besorgt hatten, getragen von Zukunftserwartungen und Aufstiegschancen. In dem Maße, wie sich das verflüchtigte, wie die Gesellschaft sich nach der Errichtung der Mauer verkapselte und zur „Einschlussgesellschaft“ mutierte, wuchsen Zweifel und Resistenz, wurde der Wunsch lauter, den von Partei und Staat propagierten Weg vom Ich zum Wir, vom Individuum zum Kollektiv umzukehren, vom Objekt staatlicher Maximen wieder zum Subjekt persönlicher Entwürfe zu werden und dann – nach dem Schleifen der Grenzwälle – in der um den Osten erweiterten Bundesrepublik sich zu behaupten, das Eigene zu bewahren, Distanz und kritischen Blick nicht zu verlieren.
Ohne Auseinandersetzung mit dem System der DDR, jenem von der Geschichte und ihren Akteuren aufgelassenen Staat, war und ist das nicht zu haben. Insofern ist Geipels Buch nicht nur Bericht über einzelne Schicksale, sondern auch memento mori, Mahnung, gedächtnispolitische Sorgfalt und Offenheit walten zu lassen, die Erinnerung zu bewahren und weiterzugeben, verstocktes oder hasenfüßiges Beschweigen zu durchbrechen, ihm jedwede Normalität zu nehmen, dabei nicht zu wiederholen, was über Jahre hinweg den Umgang mit dem Nationalsozialismus geprägt hatte. Das war in der alten Bundesrepublik so, und das war in der DDR so, hier allerdings begleitet vom Umschreiben der Historie und der Exterritorialisierung der NS-Vergangenheit. Denn die wurde umstandslos dem Kapitalismus im Westen zugewiesen: mit dem erwünschten Effekt, Land und Leute von jeder Verantwortung zu entlasten. Der Aufgabe, sich einer, über parteiamtliche Versatzstücke hinausreichenden Erforschung der braunen Diktatur und ihres gesellschaftlichen Alltags zu widmen, konnte man sich auf diese Weise entledigen und den bereits vor 1989 aufsprießenden Neonazismus übersehen. Dazu gesellte sich, was Ines Geipel „Vergessenheitspolitik“ nennt. Die zielte auf die deutschen Kommunisten vor und nach 1933, auf den stalinistischen Liquidierungsfuror und den Gulag. Mit ihr verknüpfte sich die Erfindung eines Heldennarrativs, das die Rolle der ‚roten Kapos‘ im KZ Buchenwald umdeutete und die angeblich von innen heraus ins Werk gesetzte Befreiung des Lagers im April 1945 zum Gründungsmythos der DDR verklärte.
In diese Ebenen des Textes hineingewoben sind Gespräche mit Freunden, in denen Weggabelungen aufscheinen, Kosten und Nutzen von Entscheidungen reflektiert werden. Sie konstituieren die „Generation Mauer“. Gemessen an den Erfordernissen valider sozialwissenschaftlicher Verfahren können sie keine Repräsentativität beanspruchen, beabsichtigen dies auch gar nicht. Anregend jedoch sind sie allemal, anregender als statistischer Formalkram ohnehin. Aufgenommene Fäden ließen sich fortzuspinnen und offene Enden zusammenzubringen, um einen ganzen Kontinent der Erinnerungen zu formen, offen für Ergänzungen, Erweiterungen und stets sich erneuernde Denkprozesse. Mitten drin bewegt sich die Autorin. Sie ist Zeitzeugin und Untersuchungsgegenstand in einer Person, Exempel und Beobachterin, die sich im Zentrum eines locker gewebten Generationengeflechts bewegt. Dabei wird einmal mehr deutlich, wie sehr die Geschichte der Familie hineinragt in die verschiedenen Phasen der DDR-Geschichte. Das Binnenklima dort spiegelte das Außenklima der Gesellschaft, die „Schweigegesellschaft“ DDR, die oben veranstaltete „Kulissenschieberei“ mitsamt dem vergangenheitspolitischen blame game fand ihre Entsprechung unten in den Kleinräumen der alltäglichen Existenz.
Ines Geipel weiß, wovon sie spricht. Ihre Geschichte ist zugleich Opfer- und Befreiungsgeschichte. Die beiden Großväter waren Funktionäre in der Verwaltung der von den Deutschen okkupierten Territorien im Osten. Der eine hat überlebt, der andere ist in Jugoslawien gefallen. Gesprochen wurde darüber im Kreis der Familie nicht, aber auch das Beschwiegene schleppt sich fort. Der Vater, ein Musikpädagoge, auch er ein Schweigsamer, war Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit im Auslandseinsatz, erledigte „operative Aufträge“ in der Bundesrepublik, benutzte acht verschiedene Identitäten und war wochenlang abwesend. Daheim reagierte er sich ab, indem er seine Kinder misshandelte. Die Gewalt im Innenraum nahm die im Außenraum, im Sportsystem der DDR, vorweg. Hier wie dort bestimmten Kälte, Mangel an Empathie, Verrat und ideologisch imprägnierte Illusionen das Bild. Das machte die Kluft zwischen Erwartung und Erfahrung, die Schere zwischen Glaubensgewissheiten und Tatsächlichkeiten umso spürbarer. Geipels Freund Richard ging daran zugrunde, stürzte sich irgendwann nach dem Fall der Mauer aus dem zehnten Stock eines Ostberliner Hochhauses in die Tiefe. Sie selber hatte Wochen zuvor, Anfang September 1989, die Flucht über die grüne Grenze zwischen Ungarn und Österreich gewählt. In Darmstadt studiert sie noch einmal. 1996 geht sie zurück nach Berlin, recherchiert im Bundesarchiv und nimmt die Arbeit an der Historie auf, an der familiären wie an der der DDR. Es ist ein Versuch, Souveränität über die eigene Vergangenheit, dabei nicht zuletzt „Augenhöhe zwischen Ost und West“ zu gewinnen.
Was in Generation Mauer nur angedeutet wird, erzählt Geipel ausführlicher im Buch Umkämpfte Zone, das im vergangenen Jahr erschienen ist. Jenes ist in mancher Hinsicht das Präludium für dieses. Beide hinterlassen einen starken Eindruck. Es sind schonungslose, ehrliche Texte. Man legt sie nachdenklich, auch berührt und betroffen aus der Hand.
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