Das Porträt einer starken, unabhängigen Frau

Lewis Grassic Gibbons großartiger Roman „Lied vom Abendrot“ ist eine Entdeckung

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Einstieg in Lewis Grassic Gibbons Roman Lied vom Abendrot erfordert unsere ungeteilte Aufmerksamkeit: Zum einen sind wir sofort mittendrin im schottischen Dorf Kinraddie und dessen Geschichte, in den Stuben der verschiedenen Familien und bald schon bei der Häuslerfamilie Guthrie im noch jungen 20. Jahrhundert. Zum anderen tauchen wir ein in eine Sprache, die fremd erscheint, mit Wörtern und Begriffen, die in keinem Wörterbuch stehen. Doch je mehr wir uns in diese faszinierende Welt vertiefen, desto selbstverständlicher wird das Vokabular – und ist bald schon ohne Weiteres zu verstehen. Dass dem so ist, ist das Verdienst der Übersetzerin Esther Kinsky, die bereits 2016 den im Guggolz Verlag erschienenen Band Szenen aus Schottland, eine Sammlung von Essays und Erzählungen, von Grassic Gibbon überzeugend ins Deutsche übertragen hat. Der Roman ist der Auftakt zu einer Trilogie, „die im Land der Kindheit und Jugend von Lewis Grassic Gibbon spielt, im Howe, einem weiten Becken zwischen den schroffen Bergen der Grampians und der Nordsee, südlich von Aberdeen“, wie Kinsky in ihrer lesenswerten und aufschlussreichen Vorbemerkung zur Übersetzung ausführt.

Lied vom Abendrot erzählt die Geschichte von Chris Guthrie, die vor Wissensdurst sprüht, intelligent ist und trotz Widerstände – denn wofür braucht eine Häuslertochter denn Bildung? – das College besuchen darf. Chris ist ein starkes Mädchen, die ihren eigenen Weg geht, nachdem Mutter und Vater gestorben sind. Das Leben der Mutter scheint nicht nachahmenswert. Die Geburten zehrten sie aus, als auch noch Zwillinge kamen, stand sie an der Schwelle zum Tod. Doch wie erklärt eine wie sie dem Mann, dass sie nicht mehr will, weil sie eine nächste Schwangerschaft wohl kaum überleben würde? Als sich ein weiteres Kind ankündet, wählte sie an Silvester den direkten Weg in den Tod. Nachdem der ältere Bruder die Heimat Richtung Südamerika verlassen hat, weil er sich dort ein besseres Leben erhofft, ist Chris plötzlich alleine mit dem Vater. Niemand hätte gedacht, dass die junge Frau keinen Moment zögert, das College aufgibt und zu Hause die Rolle der Mutter einnimmt. Mit dieser Entscheidung scheint ihr Leben vorhersehbar: Ehe, Schwangerschaft, Geburt, Arbeit von früh bis spät, sieben Tage die Woche. Warum sich Chris so entscheidet? Wir erfahren es nicht und müssen damit leben, dass sich nicht alles erklären lässt.

Die Figur der Chris ist jedoch deshalb so spannend und faszinierend, weil sie sich in keinem Moment ihres Lebens von jemandem etwas vorschreiben lässt. Sie ist es, die sich entscheidet. Auch dann, als der Mann verroht aus dem Krieg zurückkehrt und sie sich weigert, ihm das Frühstück zuzubereiten.

„Wenn du Frühstück willst, mach es dir selbst!“, antwortete sie. „Du Töle!“, sagte er und hob die Hand, um sie zu schlagen. Doch sie griff ein Messer, das auf dem Tisch lag, da hatte sie es bereitgelegt, fluchend wich er zurück. Sie nickte und lächelte, als sie das sah, ganz gelassen, sie legte das Messer zurück und wandte sich ihrer Arbeit zu.

Es tut weh, ihn so ziehen zu lassen, und gleichzeitig weiß sie, dass es so sein muss.

Sie stand lange da und starrte auf den Punkt, an dem er verschwunden war, scharf unter der Brust zerriss es ihren Körper, ihr Herz brach, und es kümmerte sie nicht! Sie war draußen jetzt, fort von den Mühen des Herzens und seiner Pein, er hatte alles getan, was er je tun konnte, er, der den Weg hinuntergestapft war in diesem Schatten, der der Sonne wich.

Mit dem Roman Lied vom Abendrot legt der junge Guggolz Verlag eine weitere Trouvaille vor und beweist einmal mehr die geschickte Hand des Verlegers bei seiner Programmgestaltung. In Kinsky hat er eine Übersetzerin gefunden, die den richtigen Ton trifft, um diese Geschichte auf Deutsch wiederzugeben. Sie überträgt das „Doric Scots“ in ein dialektal gefärbtes Deutsch, das von Lautmalereien und Sprachschöpfungen lebt, die Übersetzung strahlt eine Sinnlichkeit aus, die dem Deutschen ansonsten doch eher abgeht. Als Leserinnen und Leser können wir uns über diese Entdeckung freuen.

Titelbild

Lewis Grassic Gibbon: Lied vom Abendrot.
Mit einer Vorbemerkung von Esther Kinsky und einem Nachwort von Iain Galbraith.
Übersetzt aus dem Englischen von Esther Kinsky.
Guggolz Verlag, Berlin 2018.
400 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783945370155

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