Der Autor googelt derweil den Bamberger Tiernotdienst
Ein von Iris Hermann und Nico Prelog herausgegebener Tagungsband umkreist die Poetik von Clemens J. Setz
Von Thomas Merklinger
In dem auf seinen Journaleinträgen beruhenden Interviewband Bot schildert Clemens J. Setz eine kleine Szene von der germanistischen Tagung im Sommer 2016, aus welcher der vorliegende Sammelband hervorgegangen ist: Während des ersten Vortrags gerät ein Sperling in den Tagungsraum der Bamberger Villa Concordia, verletzt sich mehrmals bei dem Versuch, nach draußen zu gelangen, an einer Scheibe und wird schließlich von Iris Hermann, der Organisatorin der Veranstaltung, behutsam auf einer Fensterbank abgelegt.
In der Darstellung des Autors setzen die anwesenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer angesichts der kleinen Tragödie scheinbar ungerührt ihre Vorträge fort, denen Setz aber nicht mehr recht folgen kann, da sich seine Aufmerksamkeit nun auf das Wohlergehen des kleinen Vogels richtet. Er tritt ans Fenster, sucht mit seinem Handy vorsorglich nach dem Tierrettungsdienst und begibt sich einmal gar nach draußen. Dabei versetzt er sich gedanklich in die Perspektive des Tieres, dem der Garten und die menschliche Architektur wohl als stetiger Kampfplatz erscheinen müssen.
Wenn man den Journalaufzeichnungen des Autors glauben darf, drängt sich ihm so neben der konkreten Sorge um das Tier eine hintergründige Wirklichkeitsperspektive auf und taucht das universitäre Ritual der Werksauslegung in Anwesenheit des Dichters, aus den Augen eines verletzten Vogels betrachtet, in ein neues, befremdliches Licht. Damit bestätigen sich aber die parallel im Eröffnungsvortrag entwickelten Reflexionen von Norbert Otto Eke zur Setz’schen „Poetik des Abgründigen“, die, der Ästhetik David Lynchs vergleichbar, dem Alltagsempfinden surreale und fremdartige Eindrücke abringe.
Dieses Abgründige, wie es hinter Türen, Milchglasscheiben oder auf dem Fernsehbildschirm erahnt werden darf, stehe dem Alltag allerdings nicht entgegen, sondern füge sich in eine „ganzheitliche Erfahrung der Wirklichkeit“ jenseits von binären Strukturierungen, um dadurch die von Setz an unterschiedlicher Stelle benannte Wahrheit abzubilden, dass Vieles, auch unvorstellbare Dinge, „auf demselben Planeten“ existieren, wie es sowohl in Milchglas als auch in Bot heißt.
Nachdem er bereits im Wintersemester 2015/16 zusammen mit Kathrin Passig die Poetik-Dozentur in Tübingen innehatte, spricht Clemens J. Setz im Rahmen der 16. Bamberger Poetik-Professur im Sommersemester 2016 an vier Abenden zu „Jugend und Langlebigkeit von Literatur bzw. von Computerspielen“, ohne dabei aber wirklich den Anspruch zu verfolgen, seine Poetik zu erklären.
Das bleibt dem traditionell veranstalteten wissenschaftlichen Kolloquium vorbehalten. Setz bietet nicht wie andere Autoren eine von der Forschung dankbar aufgegriffene, schlagwortartig zitierbare Zusammenfassung seines Schreibens. Seine Poetikvorlesungen setzen vielmehr Impulse, indem sie in die Welt des Autors führen, aus der wiederum die Werke stammen – davon hat bereits Niklas Schmitt in Außerhalb der Arkaden berichtet.
Im nun erschienenen, von Iris Hermann und Nico Prelog herausgegebenen Tagungsband „Es gibt Dinge, die es nicht gibt“. Vom Erzählen des Unwirklichen im Werk von Clemens J. Setz, lässt sich die zweite dieser Vorlesungen nachlesen. In ihr präsentiert Setz unter dem Titel Fiktion und ihr Double in 15 unterschiedlich langen Passagen Anekdoten, Kuriosa und Impressionen aus dem Grenzgebiet der Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion. Obgleich einige dieser skurrilen Geschichten inzwischen aus anderen Texten des Autors bekannt sind, ergibt sich aus dieser dichten Zusammenstellung doch ein Eindruck von den poetischen Reibungsenergien beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Repräsentationsbereiche, etwa wenn beschrieben wird, wie die unscharfen Gesichter zufällig aufgenommener Menschen bei Google Streetview an W. G. Sebalds Totenbeschreibungen in Campo Santo erinnern.
Setz’ Werke zeichnen aus, dass sie nicht dem dominanten Realismusprimat der jüngeren Gegenwartsliteratur folgen, sondern vielmehr differente Wirklichkeitsebenen miteinander verschränken. Es ergibt sich so ein umfassender Zugriff auf die Welt, der dabei aber auch Abseitiges und Surreales einschließt sowie Elemente der Science-Fiction aufgreift. Aus tieferliegenden Schichten unserer Wirklichkeit – sei es aus den Weiten des virtuellen Raums, der Historie oder den Praktiken von Subkulturen – trägt Setz kuriose Anekdoten heran und bringt sie zum Leuchten.
Diese „luminous details“, wie es in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre mit Bezug auf Ezra Pound heißt, verändern den Blick auf die Welt, indem sie ihn verfremden und erweitern, lassen aber auch poetisches Potential zu Tage treten. Setz bewegt sich somit souverän in den beiden Welten der Hoch- und Popkultur und erweitert den Bereich des Wissens- und Beachtenswerten auf Gebiete jenseits des Mainstreams. Zusammen mit einem auch autofiktional inszenierten Habitus des Exzentrischen lässt sich bei Setz daher, wie Christian Dinger in seinem Beitrag vorschlägt, von einer Autorschaftsfigur des „poeta nerd“ sprechen.
Aufgrund des weitgefächerten Themenspektrums im Werk von Clemens J. Setz treten in den 14 germanistischen Beiträgen ganz unterschiedliche Aspekte in den Blick. Gemeinsam ist ihnen allerdings, dass sie die Poetik des Autors umkreisen und aus jeweils anderer Perspektive beleuchten. Im Zentrum stehen dabei die drei großen Romane Die Frequenzen, Indigo und Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, wobei letztgenannter einen erkennbaren Schwerpunkt bildet. Die essayistischen Texte Setz’ werden in einem eigenen Aufsatz (von Joanna Jabłkowska) berücksichtigt, der Erstlingsroman Planeten und Söhne, die Erzählungen und Nacherzählungen, die Gedichte und die kurze dramatische Arbeit Mauerschau hingegen erfahren zwar keine eigenständige Behandlung, scheinen aber in anderen Kontexten auf.
Unter anderem gehen die Aufsätze der Frage nach der Poetisierung von Computerwelten (Nico Prelog), dem Bezug auf die Gegenwelten von Heil- und Pflegeanstalten (Alessandra Goggio) oder dem Spiel mit Leseeinflüssen (Kay Wolfinger) nach. Aus narratologischer Perspektive werden von Florian Lehmann Störungen des Erzählens und von Kalina Kupczynska die Brechung der Kausalität herausgestellt.
Mit Bezug auf Die Stunde zwischen Frau und Gitarre untersucht Friedhelm Marx die romanpoetologischen Elemente des Stalking-Themas; Marie Gunreben hingegen zeigt, wie den Ekelmomenten des Romans die poetisch angelegte Möglichkeit innewohnt, die Fiktionsebene des Textes zu verlassen und real zu werden. Mit dem nachträglich beigesteuerten Beitrag Jonas Meurers zu „tiersensiblen“ Analysen der Tier-Mensch-Beziehungen im Werk Setz’ und ihrer poetischen Funktion schließt sich der Kreis, denn hier findet sich auch die eingangs geschilderte Sorge um den kleinen Sperling zitiert.
Mit dem Kolloquiumsband, der sich für die Institution der Poetik-Professur an der Bamberger Otto-Friedrich-Universität etabliert hat, liegt nun eine erste umfassendere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Werk von Clemens J. Setz vor. Auch wenn der Autor dem Kolloquium seinem Journal zufolge nur mit halbem Ohr gefolgt sein mag und mit seinem Handy nach der Tiernotrettung sowie nach „Anke Nivelli“ (als Verhörer von „Uncanny Valley“) gesucht haben will, sollte das nicht als Kommentar zur Qualität der abgedruckten Beiträge gelesen werden. Wie in seinen Vorlesungen bleibt Setz ganz in seiner Welt, und es ist der Leserschaft überlassen, seine Poetik zu entwickeln. Die Beiträge des Tagungsbandes haben sich dieser Aufgabe angenommen und entwickeln erste fruchtbare Zugänge zu seinem Werk.
![]() | ||
|
||
![]() |