Nur Tote kommen wieder

Antonio Dal Masetto braucht nur 267 Seiten, um vier Bankräuber um die Ecke zu bringen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Buch! Was für eine Geschichte! Und wie erzählt! Vier Männer kommen eines Tages in ein kleines argentinisches Provinznest, um eine Bank auszurauben. Sie quartieren sich für eine Nacht im Hotel ein, besuchen eine fingierte Hochzeit, bei der man den Dorfidioten an der Nase herumführt, es kommt zu ein paar Rempeleien, aber im Grund bleibt es ruhig. Einer der Männer verbringt die Nacht mit der Dorfschönheit, am nächsten Tag brechen die vier Täter auf und rauben die Bank aus. Alle gelingt, bis einer der jungen Bürger des Ortes, die am Abend auf Streit aus waren, in Polizeiuniform auf die Bank zugeht. Die vier Bankräuber fliehen, das Dorf beginnt die Jagd. Und am Ende sind alle tot.

Selten kommt ein Buch derart unprätentiös und direkt daher wie dieses. Es gibt keinen Schnörkel, es gibt keine Umwege, die kurzen Erzählabschnitte, die noch kürzer werden, nachdem die vier Bankräuber getrennt werden, kommen immer auf den Punkt. Sie folgen dem Geschehen immer exakt aus der Perspektive, die sie gerade einnehmen. Und sie wissen immer nur so viel, wie sie wissen können.

Es gibt auch kein Zögern und kein Verhalten, kein Nachtrauern oder eine Moral. Es gibt keine Psychologie und keine Geschichte, die wirklich zählt: Die vier Männer sind Bankräuber. Sie machen das zwar zum ersten Mal, aber sie sind Bankräuber. Die Dorfbewohner sind Dorfbewohner und sie sind sich ihrer Zusammengehörigkeit so sicher wie sie nur sein können. Das heißt nicht, dass es hier keine Außenseiter gibt: Sie sind zahlreich, und sie sind die einzigen, die sich nicht an der Jagd beteiligen. Das bedeutet nicht, dass es hier keine Geheimnisse gibt, von denen niemand wissen darf. Etwa dass die dicke Julia ihren halbwüchsigen Neffen verführt hat und mit dem Arzt ihrer Mutter schläft. Das bedeutet auch nicht, dass hier Dinge geschehen, die nicht geschehen dürfen: Dass die Frau des Advokaten zum Beispiel nicht von den Bankräubern erstochen wird, fällt in dem ganzen Trubel nicht auf. Dass am Ende die Beute verschwunden ist und nie wieder auftaucht, hat auch keine weiteren Konsequenzen. Das Dorf fällt in seinen gewohnten Trott zurück.

Zwischen dem Banküberfall und dem Tod der vier Bankräuber jedoch geht eine mächtige Menschenhatz los: Kaum ist die Nachricht vom Banküberfall losgetreten, machen sich alle Einwohner auf, die vier Männer zu verfolgen. Die sind erst mit dem Auto, schließlich zu Fuß, am Ende nur noch einzeln unterwegs und verstecken sich so gut es geht. Sie warten auf den Einbruch der Nacht, die sie aber nie erleben werden. Sie werden erschossen, erschlagen, mit dem Auto überfahren. Der dicke Agraringenieur nutzt seine einzige Chance, je sein Gewehr einzusetzen, das er sich für eine Safari gekauft hat. Er weiß alles über Großwildjagden und über die Waffen, die man dafür braucht. Aber er wird nie nach Afrika reisen, um dort auf die Jagd zu gehen. Zu weit, zu teuer, und er ist zu schwer. Aber jetzt ist die Gelegenheit da: In aller Ruhe wartet er, bis er zu seinem einzigen Schuss kommt und den Mann, der sich auf den Kirchturm geflüchtet hat, tötet.

Es scheint, als habe das Dorf nur darauf gewartet, endlich einmal Fremde zu jagen und zu töten. Die gehören nicht hierher, sie haben hier nichts zu suchen. Fremder, hat Georg Simmel gesagt, ist der, der kommt und bleibt. Diese vier wollen aber gar nicht bleiben, sie wollen gehen, und das dürfen sie nicht. Dass sie sich etwas genommen haben, scheint beinahe keine Rolle mehr zu spielen. Der Streitsuchende vom Vorabend ist derselbe Mann wie derjenige, der den Überfall auffliegen lässt, einmal tritt er als Festgast auf, das andere Mal als Polizist. Dennoch sind die vier Fremden nicht nur eine willkommene Gelegenheit, die Meute loszulassen und ihr endlich einmal Futter geben zu können. Ihr Bankraub bietet eine höchst willkommene Gelegenheit, den Räubern Dinge in die Schuhe zu schieben, die sowieso erledigt werden müssten. Sie sind auch so etwas wie Identität stiftende Opfer, Sündenböcke. Indem sie gejagt und getötet werden, findet das Dorf endlich zu sich selbst. Man hat eine Aufgabe und eine Geschichte - die Geschichte dieser Menschenjagd nämlich. Und ihre Protagonisten, der Advokat, der die Meute antreibt, der Agraringenieur, der endlich seinen Blattschuss setzen konnte, bekommen so etwas wie eine Identität. Zugleich ist das Dorf aber auch eine Art kollektive Bestie, die niemand aufwecken darf. Denn dann frisst sie ihn. Die Bestie frisst jedenfalls die vier Bankräuber, die am Ende den Ort als Leichen wieder verlassen. Ebenso unbemerkt vom Dorf wie von seinen Einwohnern. "Später komme ich hierher wieder einmal als Tourist zurück, einfach so", bemerkt einer der Bankräuber. Selten hat sich jemand so geirrt wie dieser Mann. Aus diesem Dorf kehrt niemand zurück, es sei denn als toter Mann.


Titelbild

Antonio Dal Masetto: Noch eine Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Susanna Mende.
Rotpunktverlag, Zürich 2006.
267 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 385869309X

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