Boten aus der Vergangenheit
Eleni Georgopoulou erschließt Marcel Beyers literarische Gedächtnisarbeit
Von Michael Braun
Historische Romane sind ein Problem für sich. Als 1995 Marcel Beyers „Flughunde“ erschien, ein doppelperspektivisch angelegter Roman über die letzten Monate der Goebbels-Kinder und des Tontechnikers Karnau im Berliner Führerbunker, wurde die Geschichte in mehrfacher Hinsicht für bare Münze genommen. Bis Marcel Beyer in einem Nachwort (2006) mit einigen Irrtümern aufräumte. Es gab keine Tonbandaufnahme der letzten Lebensstunden der Kinder, 1992 wurde kein geheimes Schallarchiv in Dresden entdeckt. Beyers „Flughunde“ ist ein Erinnerungsroman. Die Geschichte dient als Startrampe für eine Imagination, die auf Empathie setzt statt auf Reflexion. Konstruktivität und Medialität sind die epischen Grundsätze des Erinnerungsromans. „Flughunde“ gehört – so die These der an der Aristoteles Universität in Thessaloniki lehrenden Germanistin Eleni Georgopoulou – in eine Trilogie der literarischen Erinnerung. Mit den Folgeromanen „Spione“ (2002) und „Kaltenburg“ (2008) habe der Autor einen „dynamischen Beitrag“ zur literarischen Erinnerungskultur geleistet.
Diese These wird nah am Text, feinsinnig und souverän entfaltet. Die Thesen von Jan und Aleida Assmann zur Memorialkultur stehen Pate, aber auch die Studien zur Medialität von Sybille Krämer und anderen. Eleni Georgopoulou versteht es, die unterschiedlichen Inszenierungen von Medialität und Zeugenschaft in den drei Romanen auf die Bühne der Gedächtniskultur zu bringen, wo sie sich in Kommunikationsmodelle verwandeln. Erinnerung wird dabei stets als ein medialer Prozess zwischen dem erinnerten Material und dem erinnernden Subjekt verstanden. In „Flughunde“ wird dieses Vermittlungsproblem auf der Ebene der Akustik und der Tonalität erzählt, in „Spione“ tritt Medialität in der Visualisierung des Gedächtnisses zutage und in der Denkfigur der ,Spur‘. In „Kaltenburg“ schließlich geht es um die Frage der Verständigung über Botschaften aus der Geschichte und um die zweischneidige Rolle des Boten.
Den Stimmen zuzuhören, den Spuren zu folgen, den Boten zu verstehen: Hierin liegt das erinnerungskulturelle Potenzial von Marcel Beyers Romanen. Medialität ist eine integrale Funktion von Erinnerung. In der Erinnerungsliteratur wird das medial inszenierte Gedächtnis zu einer Figur der „abwesenden Anwesenheit“.