Nicht Celan oder Derrida, sondern Henri Thomas
„Der Meineid“ erstmals in deutscher Übersetzung
Von Regina Roßbach
Dieser Roman ist ein großer, wenn er auch dem Umfang nach eher als kleiner bezeichnet werden müsste. Groß ist er wegen der Vielfalt der Fragen, die er aufwirft, und wegen der Ausschließlichkeit, mit der er Antworten auf sie verwehrt. Die größte Kunst ist vielleicht, dass solche Komplexitäten auch noch mit Leichtigkeit und poetischer Zärtlichkeit gelungen sind.
Dass Stephane Chalier auf der Suche ist, wird bald ersichtlich. Ein früheres Leben in Frankreich hat er aufgegeben und dabei Vater, Frau und Kinder zurückgelassen. In dieser Reihenfolge muss man sie wohl nennen, denn die Stimme des Vaters ist jene, die ihn am lautesten noch bis auf die Erdbeerplantage verfolgt, auf der er jetzt arbeitet. Die mehrmals wiederholten letzten Worte dieses dominanten Vaters, der „kleine Romantiker“ habe „seinen Weg noch nicht gefunden“, dröhnen unentwegt nach. Ist dies also die Geschichte eines Vaterkonflikts?
Eine solche nah am Figurenpersonal entstehende Leseweise wird bei fortschreitender Lektüre relativiert. Statt einer pubertär wirkenden Abgrenzung gegen den Vater rückt eine höhere Sinnsuche als mögliches Motiv für Chaliers Aufbruch ins Blickfeld. Der Titel der Doktorarbeit, von der er dem Vater gegenüber protzig behauptet hat, sie vor Ort schreiben zu wollen, lautet „Hölderlin in Amerika“ – zugleich der ursprünglich geplante Titel des Romans. „Was wir hier sind, kann dort ein Gott ergänzen“, zitiert Chalier und gibt sich als einer zu erkennen, der tatsächlich in einem romantischen Sinn Zweifel an dem Hier und Jetzt anmelden will. Jetzt wirkt er wirklich wie eine zweite Version des romantischen Hölderlin. Als sei er aus dem rationalen Kosmos seines Vaters, des Literaturprofessors geflohen, um seine bürgerliche Existenz zu negieren. Wie das literarische Vorbild verweist er auf den Verlust eines Gottvaters als Ursprung von Leere und Sünde in der Welt. Also eine metaphysische Suche?
Mit der Sündhaftigkeit des Menschen ist sogleich der Titel des Romans angesprochen, in dem die Komplexität der Schuldfrage sich prägnant kristallisiert. Chalier macht sich im Roman des Meineids schuldig, indem er bei seiner zweiten Eheschließung in den USA seine erste in Frankreich eingegangene Ehe verschweigt. Das wiederum hat kaum psychologische Konsequenzen. Der Fokus liegt auf den gesellschaftlichen. Chalier ist mittlerweile an die Universität zurückgekehrt und forscht mithilfe eines prestigeträchtigen Stipendiums über die deutsche Romantik. Der Bigamie-Vorwurf kostet ihn seine Stelle und löst einen Skandal aus. Just in diesem Moment muss er sich einer Augenoperation unterziehen, um der Erblindung zu entgehen. Das Motiv transportiert in seiner romantischen Tradition zuallererst Rationalitätskritik. Klare Logik und Erkenntnisfähigkeit erscheint hier als etwas der Welt und den Dingen Übergestülptes.
Wie auch das Etikett „Meineid“ eine arbiträre Bezeichnung darstellt, die hinterfragt werden kann. Als Leser beginnt man bald sich zu fragen, worin dieser eigentlich besteht. Wer macht hier falsche Aussagen über wen? Ein bisher Unsichtbarer, nämlich der Erzähler, meldet sich zu Wort. Er beginnt ein Eigenleben zu entwickeln und erhält durch intime Bekenntnisse die Tiefe eines selbst problemgeschüttelten Charakters. Seine Funktion als Kollege Chaliers scheint die ihm zukommende Bedeutung nicht ganz abzudecken. Er ist vielmehr Chronist eines Geschehens, in das er durch überraschende Intimität mit Chalier auf ominöse Weise selbst verwickelt zu sein scheint. Instrumente des Kriminalromans tragen dazu bei, eine metapoetische Ebene einzuziehen. Der Erzähler bricht seinen Pakt mit dem Leser, indem er ihm Erklärungen verweigert („ihr werdet mich nicht mehr kriegen“) – ein Meineid, der zugleich unumgänglich ist. Denn nichts scheint erzählbar in diesem Roman, weil überall Lücken klaffen. Und wenn es doch erzählbar ist, dann nur als Meineid.
Henri Thomas’ Bedeutung darf nicht mehr wie in der Vergangenheit nur von großen Namen abhängig gemacht werden. Zum Beispiel von Paul Celan, der Thomas’ „Le promontoire“ (deutsch „Das Vorgebirge“) übersetzt hat. Häufig hat man ihn auf seine Übersetzertätigkeit reduziert: Aus dem Deutschen hat er zum Beispiel Jünger, Goethe, Stifter, Kleist und Brentano übertragen, aus dem Englischen unter anderem Shakespeare und Faulkner, Puschkin aus dem Russischen. Für „Der Meineid“ wäre als Referenzfigur noch Derrida zu erwähnen, der mit einem seiner letzten Essays „Le parjure, peut-être“ ein begeistertes Loblied auf den Roman und eine fulminante Analyse desselben vorgelegt hat. Jetzt sind sie also doch beisammen: jene, die bisher die einzigen Impulse für die Thomas-Rezeption darstellten. Vielleicht hat es sie auch gebraucht, denn Thomas selbst war ein schlechter Werber für die eigene Sache. Wie sein Protagonist Chalier war er ein Aussteiger und hat die Literatur- und Verlagsszene lieber hinter sich gelassen, um auf einsame Inseln zu fliehen: Thomas lebte lange Zeit auf der Insel Houat, Chalier flieht im Roman auf eine Insel namens „Hag“.
Zentraler ist jedoch eine andere biografische Information. Thomas verband eine Freundschaft mit Paul de Man, der wie Chalier in Thomas’ Roman trotz rechtskräftiger Ehe in den USA erneut geheiratet hat. De Mans Kollaboration mit den Nationalsozialisten könne laut Leopold Federmair, der das kenntnisreiche Nachwort verfasst hat, den Roman kaum beeinflusst haben, sie wurde erst lange nach seinem Erscheinen entdeckt. Die Anspielung auf de Mans Bigamie erweitert das Bedeutungsspektrum des Romans dagegen um eine zusätzliche Komponente. Jetzt gilt es nicht mehr nur, dem fiktiven Geschehen gerecht zu werden, sondern auch der Realität. Und auch hier scheint wieder nur der Meineid möglich. Derrida weist darauf hin, dass im Grunde alle Standpunkte, die man zu Fiktion und Zeugenschaft einnehmen könne, auf irgendeine Weise durch diesen Roman problematisiert würden: Wahrheit, Realität, Ehrlichkeit, Lüge, Erfindung, Simulakrum, Meineid. Derridas Gedankenspiele sind erhellend und umso bedeutungsvoller, als wir wissen, in welch naher Verbindung Henri Thomas zum Gedankengebäude der Dekonstruktion gestanden hat.
Faszinierend ist Thomas’ Fähigkeit, trotz des Verweisspiels einen Roman zu schreiben, der nicht überladen und alles andere als künstlich wirkt. Er ist auch ein großer Erzähler der kleinen Szenen und Begegnungen, der Liebe und der Freundschaft. Er ist in der Lage, einen strömenden Lesefluss zu erzeugen, einen Sog, dem man sich manches Mal entgegenstellen muss, um nicht das wichtigste zu verpassen. Über Henri Thomas, der im vergangenen Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, ist längst nicht alles gesagt. Jetzt muss er erst einmal gelesen werden.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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