Von Bielefeld in die Welt
Gerhard Henschel und der fünfte Band der Martin Schlosser-Saga
Von Stefan Höppner
Der Bildungsroman ist die deutsche Romanform schlechthin. Dies lernt man, wenn man Germanistik studiert, so wie Gerhard Henschels Hauptfigur Martin Schlosser: Ein außergewöhnlicher junger Mann wächst auf, erlebt allerlei Abenteuer, macht „irgendwas mit Kunst“ und findet am Ende seinen Platz in der Gesellschaft. Oder auch nicht. Johann Wolfgang von Goethes „Wilhelm Meister“ gilt als Paradebeispiel des Genres, und an ihm arbeiten sich vor allem die Autoren des 19. Jahrhunderts ab. Bei Goethe soll der Held von seinem Vater in den Kaufmannsberuf gezwungen werden. Dem zum Trotz entwickelt er eine heftige Theaterleidenschaft, um am Ende einzusehen, dass eine praktische Tätigkeit ihm doch besser liegt – und sei es die in einer adligen Geheimgesellschaft.
In Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“, dem Gegenentwurf zu Goethe, ist ein junger Mann zum Dichter berufen, und da hält ihn nichts auf, auch nicht der Tod seiner Muse Mathilde. Am Ende sollte Heinrich mittels Poesie die ganze Welt erlösen. Leider starb der Autor, bevor er diese Stelle niederschreiben konnte. Egal. Jedenfalls basiert der Bildungsroman darauf, dass er einer Teleologie folgt, bei der es darum geht, dass ein Protagonist seine (künstlerischen) Anlagen organisch entfalten und/oder dabei selbst heranreifen kann. Die sekundäre, aber entscheidende Frage ist dann, ob dieser Prozess gelingt, wie bei Goethe und Novalis, oder tragisch ausgeht wie in der ersten Fassung in Gottfried Kellers Roman „Der Grüne Heinrich“.
So gesehen, kann man den generischen Titel bei Gerhard Henschel nur ironisch verstehen. Sein Protagonist ist mittlerweile im fünften Roman angekommen, der die Jahre 1983 bis 1985 umfasst. Henschel erzählt linear und langsam, in kurzen Textabschnitten wie seine Vorbilder Walter Kempowski und Arno Schmidt. Wenn sich hier etwas entwickelt, dann allenfalls in Zeitlupe. Hier entfaltet auf den ersten Blick niemand seine Anlagen, sondern der Protagonist lässt sich treiben: „Wir fliegen durch die Nächte, segeln durch den Tag“, um mit einer Sängerin jener Jahre zu sprechen. Am Anfang befindet sich Martin Schlosser in Bielefeld, wo er im Vorgängertext „Abenteuerroman“ (noch so eine Ironie) seinen Zivildienst absolvierte. Hier wird gesagt, was über das Wetter in Ostwestfalen schon immer mal gesagt werden musste: „Es grenzte ans Unverschämte, was sich da so als Himmel ausgab. Eine miese Graupensuppe war das. Ein Eintopfgericht aus der Nachkriegszeit.“
Eigentlich will Martin Schlosser, soweit waren wir am Ende des letzten Romans, in Bochum dabei mitwirken, ein Programmkino auf die Beine zu stellen, aber das zerschlägt sich schnell wieder. Stattdessen beginnt er mit einem Germanistikstudium. Bald wird es ihm in Bielefeld aber zu eng, und er zieht nach Berlin, wo er sein Studentenleben in einer Kleinstwohnung fristet. Meist brennt es ihm aber ohnehin in den Reiseschuhen. Er trampt kreuz und quer über die Bundesautobahnen, als wären sie der Highway 61, besucht ein Filmfestival in Hof, Freunde in Göttingen und Heidelberg, Verwandtschaft in Hannover, jobbt auf Borkum und besucht zwischendurch immer wieder seine Familie in Meppen, diesem Nichts im Herzen des Emslandes. Er hört Dylan, spottet über Kohl, kifft und trinkt, liest die „Titanic“, Brinkmann, Gernhardt, Henscheid und Arno Schmidt. Die Ehe seiner Eltern hat den Nullpunkt erreicht. Von seiner Freundin Heike, die im „Abenteuerroman“ noch eine wichtige Rolle spielte, hat er sich entfremdet. Stattdessen verliebt er sich immer wieder neu, meist unerwidert, bis er am Ende doch wieder eine feste Freundin namens Andrea findet.
Die äußere Handlung bildet aber nur den Rahmen für die minuziöse Beschreibung eines studentischen Mittelklassealltags in der damaligen BRD, aus der der Text seine eigentliche Kraft zieht; „Bildung“ als Lebensabschnitt, nicht als Mission verstanden. Martin Schlosser mag eine Alter-Ego-Figur des Autors sein, aber durch die Verschiebung ins Fiktionale gewinnt Henschel die Freiheit, im Detail davon abzuweichen, wie er die Dinge real erlebt hat, und zugleich seiner Figur etwas Exemplarisches, Allgemeingültiges zu verleihen. Seinem Humor merkt man die Herkunft an: Vor seinem Durchbruch als Romancier schrieb Henschel selbst für die „Titanic“ und verfasste gemeinsam mit Wiglaf Droste satirische Romane wie „Der Barbier von Bebra“ (1996), in dem ein geheimnisvoller Killer ehemalige DDR-Dissidenten ermordet, nachdem er ihnen die Rauschebärte abrasiert hat. Henschels Witz mag nicht sonderlich subtil sein, trägt im „Bildungsroman“ aber dazu bei, das Geschilderte auf den Punkt, oder besser die Pointe zu bringen.
Trotzdem verbergen sich in diesem voluminösen Roman zwei tatsächliche Bildungserlebnisse: Zum einen Horst Denklers inspirierende Literaturseminare an der FU Berlin. Das zweite ist noch folgenreicher: Martin Schlossers Mutter, die als Autorin dilettiert, überredet ihren Sohn zur Teilnahme an einem der legendären Literaturseminare, die Walter Kempowski in seinem Haus in Nartum bei Bremen abhält: „Kempowski? Konnte man den überhaupt ernstnehmen? Verfaßte der nicht nur nostalgische Heimatliteratur?“ Schlosser ist tief beeindruckt, gleichzeitig aber auch befremdet von Kempowskis konservativem Habitus und dem strikten, durch die lange Haftzeit in Bautzen gefestigten Antikommunismus des Autors. Letztlich erweist sich aber die Anziehung als stärker, auch wenn Schlosser sich die Sympathie Kempowskis zunächst verscherzt: Er kritisiert diesen dafür, dass er das Deutschlandlied auf dem Klavier spielt. Hier schreibt Henschel vielleicht nicht über das einzige, aber das vielleicht wichtigste Inititationserlebnis seiner Arbeit; nicht umsonst hat er Kempowski später mit dem Band „Da mal nachhaken“ ein Denkmal gesetzt. Wenn Martin Schlosser einen Vortrag des Autors über die Kompositionsweise seiner Romane referiert, verweist das Buch zugleich darauf, wie es selbst gemacht ist: ein Mosaik aus einer Vielzahl kleinster Beobachtungen.
Dass es auch diesmal ein gelungenes Buch ist, versteht sich – allerdings unter der Voraussetzung, dass man mit dem Ton und der Perspektive des Protagonisten sympathisiert. Aber auch darin ist Henschel nahe bei seinen Vorbildern Kempowski, jedenfalls dem der „Deutschen Chronik“, und Schmidt. Derweil können wir gespannt auf den nächsten Band warten und über seinen Titel spekulieren. Wenn Henschel nicht schon einen in petto hat – „Fortsetzungsroman“ wäre kein schlechter Titel.
![]() | ||
|
||
![]() |