Vergangene Zukunft
Die Zukunft der kulturgeschichtlichen Vergangenheit
Von Christoph Schmitt-Maaß
Einmal mehr bringt die verdienstvolle "edition 52" dem Leser den spanischen Comic-Zeichner Daniel Torres näher. Nach "Rocco Vargas" und "Schwarz ist der Winter" liegt mit dem "Engel von Notre-Dame" wieder eine geschlossene Geschichte vor.
Ähnlich wie Schuiten und Peeters in ihrem Zyklus der "Geheimnisvollen Städte" setzt der Autor auf Irritationen und Brüche, bringt Vergangenheit und Futurismus zusammen. Dadurch gewinnt seine Narration eine kulturell konnotierte Spannung, die im Hier und Jetzt begreifbar ist, jedoch auch für alle anderen Zeiten gelten kann: der Zusammenstoß von Fortschritt und Konservativismus, von Religion und Technik.
Gerade der letzte Aspekt gewinnt eine zentrale Bedeutung und erfährt eine überraschende Uminterpretation. Technik wird zum Medium der Allmacht und bedingt die Bildung einer neuen Priester-Kaste, die das Leben und mehr noch die erfahrbare Realität der Galaxienbewohner kontrolliert.
Richtig, wir befinden uns in der Zukunft. Schwarze Löcher sind die Fix- und Drehpunkte der intergalaktischen Reisen. Die Gefahr, die von einer solchen Beherrschung von Zeit und Raum ausgeht, soll durch das "Haupt", die Priester-Kaste, gemindert werden. Im Kampf der Barbaren gegen die Aristokraten spitzt sich diese Problematik zu, denn Rosenkranz, ein "abtrünniger" und kaisertreuer Priester, benutzt sein Wissen, um den Fortbestand der Aristo-Kaste zu sichern. Die kindliche Prinzessin Oliana schickt er auf eine Reise durch Raum und Zeit, an deren Ende sie sich gegen ihren Retter wenden und eine friedliche Vereinigung von Barbaren und Aristokraten versuchen wird.
Bestechend ist vor allem Torres' holzschnittartige Zeichentechnik, die auf Kontur und Licht/Schatten-Wirkung setzt. Die Charaktere sind differenzierter, Böse und Gut werden aus der jeweils eigenen Perspektive vom Leser wahrgenommen und verhindern eine allzu platte Identifizierung. Superheldenabbilder, Comic- und Filmzitate werden verfremdet und ironisch zitiert, ordnen sich aber dem Geschehen unter. Bewusst bringt der Spanier zusammen, was scheinbar nicht zusammengehört: Außerirdische und Rokokokleidung, Raumschiffe und Phantasieuniformen des 19. Jahrhunderts. Torres kombiniert traditionelle Aspekte der kulturgeschichtlichen Vergangenheit mit einem zeitlosen Zukunftskonzept.
Der Seitenaufbau sowie syntagmatische Über- und Unterordnungen lenken gezielt den Blick des Lesers von den über- zu den untergeordneten Panels. Rasante Schnitttechniken und Abfolgen einzelner Icons gewährleisten in ihrer flüchtigen Momenthaftigkeit die Einordnung in übergeordnete Bedeutungszusammenhänge. Das Hintergrundthema, die Erfahrbarkeit von Zeit und Raum, schlägt sich auch in der Bildgestaltung nieder. Hier werden Sprechblasen über mehrere Bilder miteinander verknüpft. Die Erzählerfigur, der "Engel von Notre-Dame" genannt, spricht den Leser direkt an, hebt ihn aus seiner Oberflächenrezeption heraus. Gerade dieser Engel, eine Art "Schleusenwärter" des schwarzen Loches, versinnbildlicht Zeit- und Raumdiskontinuität der Erzählung. Er ist in der Lage, in mehreren Zeitdimensionen zu leben und sie nach Belieben zu verändern. Gleichzeitig wird hier der Mythos des Retters neu konstruiert: Nicht der nur äußerlich omnipotente Captain Lightfoot beherrscht die Handlung und rettet letztendlich die Prinzessin, sondern sein unauffälliges Pendant tut dies.
Ein Vorwort, mehrere Skizzen Torres' und der stabile Einband sollten auch den materialistisch eingestellten Comicfan vom Sinn dieser Investition überzeugen. Für alle anderen gilt: Ein neuer Baustein hat das Comicuniversum bereichert und bringt beste Chancen mit, einen festen Platz im Kanon einzunehmen.