Monolog und Momentaufnahme
Hans Pleschinskis nachgereichtes Debüt
Von André Hille
Bremen, Oktober 1975: Eine lebensfeindliche Betonwüste, trist, verregnet, düster. Der morgendliche Weg zur Arbeit gerät zur Hasstirade auf die Welt: "Die Hertie Front. Jeden Morgen erinnert mich diese Ausgeburt von Hässlichkeit an meine ehemals so klaren Ideen über das Menschenwürdige. Die bis ins Detail selbe Fassade habe ich jetzt schon in rund einem Dutzend Städte gesehen. Wenn man sich nicht sagte: Jetzt bist du in Bremen, würde man's nicht bemerken."
Die weitere Story ist rasch erzählt: Der Filmemacher Stephan erfährt, dass der spanische Diktator Franco im Sterben liegt. Da er mit seinem derzeitigen Filmprojekt - einer Dokumentation über Atomkraftwerke - in einer Sackgasse steckt, beschließt er, den nächsten Zug nach Madrid zu nehmen, um dort endlich den wahrhaftigen Film zu drehen, der ihm in Bremen nicht gelingen will. Auf der Fahrt trifft der Protagonist auf Juliette und Michel, ein belgisches Paar, das in Andalusien ein neues, einfaches Leben beginnen will.
Seine Hoffnung, in Spanien an einem großen Umbruch, vielleicht gar an einem Bürgerkrieg teilzuhaben, wird jedoch enttäuscht - es bleibt ruhig im Südwesten Europas. Während der Reise entwirft der Protagonist Dutzende Filmideen, die jedoch sämtlich seinen Ansprüchen nicht genügen und wieder verworfen werden. Statt zu einem großartigen Spanienfilm führt die Reise über Begegnungen, Erinnerungen und Reflexionen zu einer neuen Einsicht: "Mit diesem Land kann ich nicht so recht umgehen. Ich bin wohl nicht der Typ, mich zwischen unnahbaren Leuten wohl zu fühlen. Wenn ich tatsächlich noch einen Film über sie machen wollte, dann würde ich [...] einen Filter aus 2000 Kilometern zwischen sie und mich schieben." Desillusioniert verabschiedet sich Stephan von der anfänglichen Idealisierung des sonnigen Spaniens: Die "latenten Leidenschaften" der Spanier befremden ihn jetzt. Was zunächst adretter Stil und Stolz eines Volkes war, wird nun zur Maske.
Selbst das belgische Aussteigerpärchen, zu Beginn noch von Stephan beneidet, ringt ihm nur noch Bedauern ab: "Juliette und Michel wachen nun zum dritten Mal im andalusischen Gemäuer auf. [...] Es wird mir ganz plümerant, wenn ich daran denke, daß die fruchtbare Ruhe nach drei Tagen zur Einöde [...] wird, dass einem das Blut vor lauter Gefühl, etwas zu verpassen, in den Adern stocken bleibt."
Die Erzählung bewegt sich entlang der Reise von Bremen nach Madrid, weiter nach Toledo und schließlich nach Paris. Hier endet das Geschehen in einer skurrilen, fast surrealistisch anmutenden Sequenz - in einer labyrinthischen Homosexuellen-Sauna macht der Protagonist seine erste sexuell gleichgeschlechtliche Erfahrung, die mit Übelkeit und Schwindel endet: "Lass ihn, Serge, ihm geht's nicht gut. Der Magen. Wer weiß, was er in Spanien gegessen hat. Mitten im... als wir gerade, mitten im Orgasmus ist er käseweiß geworden."
Über weite Strecken des Textes dominiert der innere Monolog, die Auseinandersetzung mit einer Welt, in der sich klare Fronten und festgelegte Lebensläufe sukzessive auflösen. Nichts scheint in den Augen des Protagonisten Bestand zu haben: "Jeder findet, was ihm schmeckt. Über alles sind wir informiert. Es ist bemerkenswert zu sehen, wie sich Josef mit Monteverdi-Musik zu Drehbüchern inspirieren lässt und Gerda sich mit Dada-Lyrik in der Badewanne entspannt. Sabine schwört auf die letzte Wahrheit - bei ihr ist es Kubismus. [...] Was ist überzeugender? Der Papst oder die UNO." Pleschinskis Text ist zugleich eine Absage an die politischen Parolen der 68er Generation; er etabliert einen Subtext, der den Bruch zwischen einer Politisierung und einer Individualisierung der Welt markiert.
Doch allzu oft bleibt der Protagonist in einer rein narzisstischen Selbstspiegelung gefangen, wird diese Selbst-Inventur, das Ich-gegen-die-Welt-Gefühl überstrapaziert. Es erfordert viel Geduld, den sprunghaften und assoziativen Gedanken, diesem ständigen "Nachdenken, Grübeln, Erwägen, hin und her im Zickzack" zu folgen.
Folgerichtig ist die Erzählung immer dann am lebendigsten, wenn der Autor die Nabelschau verlässt und szenisch arbeitet. So in der Episode um die ostdeutsche Kusine - eine Art Sarah Wagenknecht der 70er Jahre -, die Stephan in Stralsund besucht. Die Auseinandersetzung mit diesem dogmatisch vom Sozialismus überzeugten Mädchen wird auf eine humorvoll-ironische Weise gelöst: "Beate ist kein Mädchen, sie ist ein bitteres Plakat. [...] Aber wie soll man Spielraum, das eben nicht Eindeutige, überzeugend machen. Die Kleine ist sehr hübsch. Ich hätte ihr gern die großen Vorrechte der Schönheit gewünscht, die Champs Elysées oder einen frivolen Franzosen, der auf die Weltrevolution scheißt und mit seinen Küssen alle Grenzen zusammensinken [...] lässt."
Zwischen solchen Szenen, die leider die Ausnahme bleiben, und den langen Passagen des inneren Monologs findet Pleschinski immer wieder zu kraftvollen lyrischen Momentaufnahmen, die den Strom der Reflexionen unterbrechen und die Befindlichkeit des Protagonisten direkt erfahrbar machen: "Staunen und nicht mehr staunen, das teilt die Lebenshälften." "Momente - über einer engen Straße - in welchen ich aus jeglicher Aktualität gefallen bin, von Faszination der höchste Grad, ich war unfähig bestimmt zu sein." "Dieser Tag tut aber nichts für mich, er bleibt in seinen Momenten hocken."
Fraglich bleibt, warum das Debütwerk des Autors erst jetzt, 22 Jahre nach seiner Entstehung, erscheint. Ob es dem Autor und dem Verlag tatsächlich um die Nachreichung eines verspäteten Manifestes der "78er Generation" ging, wie es Matthias Politycki in seiner Nachbemerkung vermutet oder hier lediglich eine Publikationslücke überbrückt werden sollte, sei dahingestellt. Zerstreuung findet man jedenfalls in Pleschinskis Text ganz gewiss nicht. Eher eine Art ,Zerstreutheit', einen durch permanente Reflexion gebrochenen Blick eines 22-Jährigen auf drei europäische Städte der 70er Jahre.
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