Nervenkrieg im Greene County
Tristan Egolfs rasantes Romandebut
Von Lutz Hagestedt
Wenn ein junger Amerikaner auftritt und einen Roman schreibt, der internationale Erfolge feiert und in alle Weltsprachen übersetzt wird, so kann uns dies nicht überraschen. Denn aus Amerika, so will es zumindest die landläufige Meinung, kommen derzeit die großen Erzähler. Wenn der Roman bildhaft ist, anschaulich, wenn er Witz und Verve und Spannung hat, ja vor Leben strotzt, wenn der Autor radikal von der eigenen Biographie absieht und sich eine fremde Materie erarbeitet, wenn er uns im Erzählen vorführt, wie er´s macht, wie er arbeitet, wie er sich die Welt erschließt, wie er Spannungsbögen baut, Komik produziert, seine Figuren leidenschaftlich knetet und ihnen Leben einhaucht, kurz: wenn seine Arbeit nicht nur bemerkenswert, spannend, unterhaltsam ist, sondern auch lehrreich und handwerklich gut gearbeitet und obendrein vorzüglich und farbig und ideenreich übersetzt, dann ist dies einen genauen Blick wert.
Tristan Egolf heißt dieser staunenswerte, von Ideen übersprudelnde jugendlich-ungestüme Erzähler aus Amerika, und sein Erstling ist sogleich monumental, ein "Monument für John Kaltenbrunner". Und wer setzt Kaltenbrunner das Denkmal und weshalb? Gleich zu Beginn des Romans, in einer auch optisch hervorgehobenen Exposition, führt sich ein Erzählerkollektiv selber ein, eine Gruppe ,historischer' Zeugen, die sich vorgenommen hat, Johns Geschichte aus eigener Perspektive und aus einem Wahrheitsimpuls heraus zu dokumentieren. Diese Gruppe lässt keinen Zweifel daran, dass sie eine Fabel, eine Saga, eine Tragödie biblischen Ausmaßes zu erzählen hat, in der John Kaltenbrunner als Hiob und Messias und Antichrist zugleich fungiert - und die Erzähler als seine Apostel.
Bibel, Messias, Antichrist - große Worte für ein Ereignis von bestenfalls lokaler Bedeutung, nicht mehr als ein paar Schlagzeilen im "Greene County Herald" wert. Denn was John Kaltenbrunner im fiktiven Pullman Valley zu Füßen der Appalachen anrichtet, ist - nüchtern betrachtet - nicht viel mehr als eine im Wortsinne schmutzige Sabotage der öffentlichen Ordnung, in deren Folge die kleine Gemeinde Baker am Rande des "Corn Belt", der Kornkammer Amerikas, in Müll und Chaos versinkt. Und die betroffene Gemeinde versucht denn auch, den Fall herunterzuspielen: den Bürgern von Baker erscheint Kaltenbrunner nicht als Lichtgestalt, sondern als bloßer Aufrührer, als verkappter Revolutionär, dessen politische Sendung niemals deutlich und artikuliert zutage getreten ist, so sie denn überhaupt existierte. Selbst Kaltenbrunners Gefolgsleute zweifeln, ob sein Leben und Sterben irgendeinen heilsgeschichtlichen Sinn gehabt hat.
Dies also ist die Fabel: Der Protagonist, über dessen Herkunft und Geburt wilde Gerüchte im Umlauf sind, wächst als kränkelndes Kind und Halbwaise auf einer abgelegenen Farm auf. Der Außenseiter wird von den Mitschülern regelmäßig getriezt, bis er an einem von ihnen ein grausames Exempel statuiert. Von da an in Ruhe gelassen, scheint er sich nur noch für seinen eigenen Kosmos zu interessieren, für die leere und heruntergekommene Farm, die sein früh verstorbener Vater hinterlassen hat und die John nun mit Leben erfüllt. Auf dieser Farm entfesselt er - noch als Kind! - einen "heiligen Renovierungskrieg" und beginnt eine erfolgreiche Schaf- und Geflügelzucht. Schon der Elfjährige hat seinen Tagesablauf komplett durchorganisiert, die Farm prosperiert, bis es zu einer Folge schwerer Heimsuchungen kommt:
Erst ist es ein Twister, der die Farm verwüstet, gefolgt vom verheerenden Zusammenbruch der Mutter, dem schweren Autounfall auf dem Weg zum Krankenhaus, der Schlägerei in der Notaufnahme und dem Aufmarsch der "Methodistenvetteln", die sich zum Ziel gesetzt haben, John um sein Eigentum zu betrügen. Gegen Hortense Allensbach und ihre Glaubensgenossinnen verliert John seinen ersten großen Kampf. Zwar verschanzt er sich auf seinem Besitz und vermint Grund und Boden, doch mit vereinten Kräften gelingt es den "Werwölfen", ihn von der Farm zu vertreiben. Eine kompositorische Schwäche des Romans ist, dass er nach diesem ersten großen Showdown Johns Widersacherin Hortense ein wenig aus den Augen verliert. Kurz nur findet sie Erwähnung, als John das Gotteshaus der Methodisten in Brand setzt und seinen zweiten Kampf, den gegen seinen Bewährungshelfer, gewinnt.
John Kaltenbrunner fungiert in der scheinbaren Idylle des Greene County als eine Art Katalysator. Die stille Harmonie und Eintracht der öffentlichen Ordnung wird durch sein Erscheinen einfach aufgebrochen. Plötzlich entladen sich Konflikte und Rivalitäten, wird das soziale Gefälle spürbar, rächt sich der über Jahre gepflegte bürgerliche Chauvinismus. Schon das Setting am indianisch klingenden Patokah River ist gut gewählt: Hier liegen nicht nur die rivalisierenden Gemeinden Baker und Pottville dicht beieinander und tragen in Friedenszeiten ihre Konflikte sportlich auf dem Baseball-Platz aus, hier lebt der "White Trash" in Gestalt der so genannten "Flussratten" und asozialen Primitiven, deren Intelligenzquotient durch permanenten Inzest auf die lebensnotdürftigen Basics zurückgestuft wurde.
Eindrucksvoll imaginiert sich Tristan Egolf die gesichtslose Gemeinde Baker als einen sozialen Dampfkessel, der bescheiden vor sich hin köchelt, bis er plötzlich unter Druck gerät und zu platzen droht. Egolf gibt hier, fast lehrbuchhaft und mit einem aufklärerischen Impuls, das Bild einer Ortschaft wieder, deren Konfliktpotential prima facie gering ist, doch im Ernstfall nur mühsam gedeckelt werden kann. Dieser Ernstfall tritt in Form eines Müll- und Nervenkrieges ein, der die gesamte Ordnung der dargestellten Welt ins Chaos stürzt. Und auf der Höhe des Durcheinanders wird die Gemeinde auf John Kaltenbrunner als alleinige Ursache gestoßen. Mit bemerkenswerten Folgen: denn mit einem Wisch ist jede Form soziologischer Ursachenforschung vom Tisch gefegt, beginnt die irrationale und barbarische Hatz auf einen Sündenbock. Und wo die einen Satan am Werk sehen, da verklären die anderen, Johns Gefolgsleute, diesen Bruder Hiobs als messianische Figur.
Die hochtourig erzählte Geschichte hat auch einen Nachteil: sie nervt. Die vielen extremen Bilder, der immer farbig-volltönende Gestus ermüdet. Kaltenbrunner und seine Apostel, die "kollektiven Erzähler" dieser Unheilsgeschichte, erscheinen uns als Apokalyptische Reiter, die zu Notwehrexzessen neigen. Oder als Gladiatoren, die in aussichtslosen Schlachten zertreten werden und, mühsam zusammengeflickt, erneut und wie wahnsinnig weiterstürmen. Und doch behaupten sie im Prolog, sich "keinerlei Ausschmückungen" leisten zu wollen, sondern noch hinter den "wildesten und dreistesten Halluzinationen des Pöbels von Baker" zurückgeblieben zu sein. Mit Kaltenbrunners Tod erst kommen sie, kommt auch Baker wieder zur Besinnung, peinlich berührt über die Torheiten, die man sich über Monate hinweg geleistet hat. Dass damit etwas besser geworden sei, dass man für die Zukunft etwas gelernt habe, bleibt ein frommer Wunsch. Ein Müllwerkerstreik mit seinen ekelhaften Folgen kann eben nicht als reinigendes Gewitter gelten. Tristan Egolf ist ein ungestümer Erzähler, auf grelle Farben und Vergleiche aus, darin Tom Coraghessan Boyle nicht unähnlich. Was einzig ihm abgeht ist das rhythmische und notwendige Wechselspiel von Systole und Diastole, von Erregung und Ruhe, Spannung und Entspannung. Aber diese Forderung wird sein zweiter Roman vielleicht schon einlösen.
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