Des Dichters Mutter

Eine Biographie zu Goethes Mutter Catharina Elisabeth

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein ganz und gar unvergleichliches Frauenzimmer war diese Frau Rath Goethe, selbst oder gerade, als sie Dinge tat, die im 18. Jahrhundert für eine Witwe unschicklich waren. Das Theater erklärte sie zum zweiten Zuhause und den besten Komiker der Theatertruppe - zwanzig Jahre jünger als die Fünfzigjährige - zu ihrem liebsten Hausgenossen. Überhaupt besaß sie das Naturell, die Menschen um sich herum fröhlich und guter Dinge sein zu lassen. Das zog Bürger, Forscher, Schriftsteller, Geistliche, sogar Adlige und Herrscher in ganz unerhörter Weise an. Die Königin von Preußen hängte ihr höchstselbst eine goldene Kette um, und die Herzoginmutter Anna Amalia von Sachsen-Weimar schrieb ihr nicht nur Briefe wie einer guten Freundin, sie schickte ihr sogar Strumpfbänder. Catharina Elisabeth Goethes Erzähltalent überwältigte Groß und Klein, ihre Güte und ihre ansteckende Art, sich die schönen Dinge im Leben zu suchen, während sie die unschönen den anderen überließ, half ihr über manch schwere Stunde. Es war, als trüge sie den berühmten Ring aus Lessings "Nathan der Weise", der sie den Menschen wohlgefällig machte. Sogar ihre Religiosität erinnert in vielem an Nathan, weil sie überzeugend, handfest, hilfreich und so weit entfernt von Bigotterie und Dogmatik war, wie man es sich nur wünschen kann.

Ihr wunderliches, so aus sich selbst heraus strahlendes Dasein bildet in allen Biografien des Sohnes Johann Wolfgang ein Glanzlicht, denn keiner der Lebensbeschreiber vergisst, ihre Briefe sprechen zu lassen. Selten - vielleicht nur noch bei Christiane Goethe - ist der Ausdruck "sprechen" für Briefe so angebracht wie bei ihren. Sie fangen oft unvermittelt an, wechseln schnell und heiter die Themen, kennen keine falsche Vertraulichkeit und keine falsche Scheu. Wie eine schriftliche Physiognomie ihrer Rede wirkten sie damals und wirken sie noch heute.

Einer eigenen Stellung hatte sie sich zu Lebzeiten erst erfreuen können, als ihr gestrenger Ehemann Johann Caspar Goethe starb, denn seit sie als 17jährige mit dem um 21 Jahre Älteren verheiratet worden war, unterstand sie de jure und de facto seiner Autorität. Der Privatier lenkte seine von keinem Amt gebundene Energie nicht nur auf das Gebiet des Sammelns, er entwickelte leider auch einen fast krankhaften pädagogischen Eifer, dem die Kinder ebenso wie die Ehefrau zum Objekt dienen mussten. "Frau Aja", wie sie liebevoll genannt wurde, verstand es trotzdem Freiräume für sich und die Ihren zu schaffen und der Ehe mit Johann Caspar Goethe eine eigene Qualität abzugewinnen. Es liegt auf der Hand: Diese lebenskluge, lebenslustige und lebenspralle Frau reizt jede geborene Biografin.

Obwohl es bisher schon mehr als eine Handvoll von Versuchen dazu gab, scheint Dagmar von Gersdorff wie gerufen zu kommen; hat sie doch schon Sophie Brentano-Mereaus Schicksal beschrieben und - unübertroffen in gewinnender Zurückhaltung und reizvoller Lakonie - den Werdegang von Marie Luise Kaschnitz. Fast wie ein weiterer glücklicher Zufall erscheint es, dass neue Quellentexte auftauchten, die einen besonders anschaulichen und detailreichen Einblick in Catharina Elisabeth Goethes Alltag geben: eine ganze Reihe Haushaltsbücher. Gersdorff versteht es, diese Wort- und Zahlenreihen zum Sprechen zu bringen: Höhere Arztrechnungen verweisen auf schlechtere Gesundheit, unterschiedliche Geldsummen für die Kinder auf die Gewogenheit oder Unzufriedenheit des Vaters, regelmäßige Bezahlung von Malaga-Wein-Lieferungen auf eine genussfreudige Witwe. Sie findet aber auch zwischen den nackten Zahlen Kosenamen von Johann Caspar Goethe für seine Frau - an deren Häufigkeit und Intensität kann man das Eheklima ablesen. Auf diese Weise fehlt dieser - reich illustrierten - Lebensgeschichte von einer Kindheit als des Stadtschultheißen Töchterlein bis zur europaweit berühmten Dichter-Mutter nie an Bodenhaftung.

Dagegen fehlt es aber an Konzentration, an Zurückhaltung und zuweilen an Genauigkeit. Catharina Elisabeth Goethes Leben verdient durchaus 450 Seiten; Stoff gibt es ja - dank der Briefe, der Haushaltsbücher und vieler anderer Quellen - in Hülle und Fülle. Warum aber muss es - fast ohne Bezug zur Mutter - kapitelweise um den berühmten Sohn und dessen Schwester Cornelia gehen, obwohl beide ihre ausgezeichneten Biografen gefunden haben? Wichtiger noch: Warum schildert von Gersdorff nicht konsequent aus der Perspektive der Mutter? Das wäre erfrischend und erlaubte wirklich neue Einsichten. Warum fällt die Verfasserin gerade über Cornelia ungenaue, widersprüchliche unzutreffende und unkritische Urteile? Man will so simpel nicht mehr von der "unreinen" Haut der "hässlichen" Cornelia lesen, die sich nicht in ihr Schicksal findet, so viel unfreier als der Bruder zu sein: "Cornelia vergiftete die Atmosphäre", "sie hätte nur [!] etwas guten Willen zeigen müssen", "sie hätte nur [!] das Gute sehen müssen", "Cornelias Frechheit war nicht zu entschuldigen"; und als (hoffentlich unbeabsichtigte) Krönung: "Wenn ihr etwas nicht paßte, zog sie sich in Krankheit oder in die Isolation zurück. So hielt sie es auch in ihrer Ehe. Mit sechsundzwanzig Jahren war Cornelia Goethe tot." Der Tod als eine Strafe für ungeselliges Verhalten? Da verwundert es nicht mehr, dass von Gersdorff missverständlich und verkürzt über ein mögliches inzestuöses Verhältnis der Geschwister und über Cornelias "Frigidität" schreibt.

Warum spekuliert Gersdorff häufig ganz unnötig und warum zieht sie unhaltbare Schlüsse? So muss Catharina Elisabeth Goethe, weil Briefe Charlotte von Steins via Frankfurt dem Sohn nachgeschickt wurden, beider Verhältnis gekannt haben. Warum nennt sie jeden mit vollständigem Namen, nur die beiden Jacobi-Brüder mit Spitz- ("Fritz") bzw. Kurznamen ("Georg")? Warum betont sie vor einem Zitat, es entstamme einem bislang ungedruckten Brief, wenn dann nur drei belanglose Worte folgen? Warum missachtet sie immer wieder die Grundsätze der Quellenkritik? Da wird ein indirektes Zeugnis über die "intim spirituellen Neigung" des Schauspielers Unzelmann zur "Frau Rath" drei Zeilen später zu den "intimen Jahren mit Unzelmann". Den Werken Goethes geht es nicht besser, wenn die lebenswirklichen Implikationen nicht nur benannt, sondern bedenkenlos an der Wirklichkeit überprüft werden: "Was die autobiografischen Züge betraf, tat Goethe in seinem Roman ["Wilhelm Meister"] seinem Vater unrecht." Schlimmer noch sind krasse Fehlurteile: Goethes "Werther" "propagiert den Selbstmord".

Es bleibt unverständlich, warum sich bei Gersdorff so angenehme Passagen, einfühlsame Schlussfolgerungen, eindrucksvolle Schilderungen neben so entbehrlichen, ja falschen und unkritischen Abschnitten finden! Mit dem Apfel-Liebhaber Alfred Kerr zu sprechen: "Hier liegen Borsdorfer neben Pferdeäpfeln".

Titelbild

Dagmar von Gersdorff: Goethes Mutter Catharina Elisabeth. Eine Biographie.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
463 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3458170650

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch