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André Hille über die aktuelle Hörbuch-Konjunktur

Von André HilleRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Hille

"Hörbücher sind wie Stummfilme, nur umgekehrt" lautet ein Ausspruch, der dem Hörbuch durch die Gleichsetzung mit dem Anachronismus Stummfilm eine Leerstelle, ein Fehlen unterstellt. Beide sind nur halb, Sprache oder Bild, scheinen ohne einander nichts und müssten nur wie die Königskinder zueinander finden, um endlich (im modernen Film) vereint, die ganze Macht ihrer (Sinnes-)Reize ausspielen zu können. Doch der Spruch trügt. Nichts Halbes ist das Hörbuch, es ist mehr als das Ganze.

Hörbücher setzen, im Gegensatz zu (Stumm-)Filmen auf die Kraft der eigenen Imagination. Die inneren Bilder, die ganz eigenen Vorstellungen sind immer noch die lebendigsten, die stärksten. Wer kennt das nicht: Man liest ein Buch, ist begeistert, verschlingt es und hört einige Zeit später, dass es verfilmt wird. Man sieht den Film und ist enttäuscht. Plötzlich sind all die inneren Bilder weg. Man kann die Figuren, die Landschaften nicht mehr in ihrem vorherigen, "unberührten" Zustand denken, die fertigen Bilder drängen sich auf, prägen sich ein, legen sich auf die Phantasie wie Zement um den Backstein. Individuelle, offene Bilder werden ersetzt durch allgemein- und endgültige. Die fremde Vorstellungswelt raubt die eigene. Das Hörbuch geht da behutsamer vor. Es respektiert die Phantasie. Das Hörbuch nimmt dem Hörer nicht die Bilder, es lässt sie ihm.

Man lässt sich nach einer Literaturverfilmung vielleicht noch zu der Bemerkung hinreißen, das Buch sei adäquat oder der Film der Vorlage entsprechend umgesetzt. "So hab ich das mir vorgestellt", ist in den meisten Fällen als Lob zu verstehen. Doch nur selten erlebt man es, dass der Film besser gefällt als das Buch, dass er über das Buch, ergo über die eigene, beim Lesen entstandene Vorstellungswelt hinauswächst. Und wenn, dann ist der Film wirklich etwas Eigenes geworden.

Das Hörbuch ist nicht wie ein umgekehrter Stummfilm. Im Gegenteil. Die mit jeweils anderen Sinnen arbeitenden Medien sind nicht beliebig umkehr- oder austauschbar. Das Hörspiel lässt Raum, es erschafft einen imaginären Hör-Raum, in dem sich imaginäre Figuren bewegen. Das Medium Film erschafft auch einen Raum, einen Bild-Raum, der jedoch, und das ist der wesentliche Unterschied, ausgeformt und eindeutig ist und somit keine Alternativen zulässt. Figuren und Räume im Hörbuch sind amorph. Ein Kriminalhörbuch etwa wird ebenso viele verschiedene Kommissare entstehen lassen, wie es Hörer gibt. Oder wir machen uns eben kein konkretes Bild und Figuren und Räume bleiben unscharf. Diese Freiheit lässt das Hörbuch, eben weil die Bilder- und Augen-Welt ausgeschaltet ist, die uns ständig mit der uns umgebenden realen Welt verbindet.

Das Lese-Buch hat dem Hörbuch voraus, ließe sich einwenden, dass es selbst die Stimmen nicht vorgibt, scheinbar also noch mehr Raum für die eigene Vorstellungswelt lässt. Doch wer schon mal des Nachts im Dunkeln im Bett gelegen und einem guten Hörbuch gelauscht hat, wird wissen, wie vollständig man in der fremden Welt versinken und wie suggestiv die Atmosphäre der allein über das Gehör entstehenden Welt sein kann. Beim Lesen lassen sich eben schlecht die Augen schließen.