Freiheitsübungen
Peter Nádas' "Kleine Prosa"
Von Daniel Henseler
Die ungarische Literatur ist im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren wahrlich in Mode gekommen. Und dies nicht erst, seit Imre Kertész 2002 der Nobelpreis zugesprochen wurde. Es genügt hier, an den einzigartigen Sándor Márai-Boom zu erinnern. Mittlerweile werden uns in regelmäßigem Abstand immer wieder neue ungarische Autoren vorgestellt. Besondere Aufmerksamkeit wurde zuletzt Antal Szerb und Dezsö Kosztolányi zuteil. Kaum eine Literatur wird in den hiesigen Feuilletons gegenwärtig so oft entdeckt wie die ungarische. Im Übrigen durchaus zu Recht. Wer jedoch auch schon ab und zu nach Ungarn schaute, als das Land noch nicht einmal EU-Kandidat war, dem waren zwei Große der zeitgenössischen ungarischen Literatur schon lange keine Unbekannten mehr: Ich meine hier Péter Esterházy und Péter Nádas.
Péter Nádas, geboren 1942, dürfte dem interessierten deutschsprachigen Publikum spätestens seit 1991 ein Begriff sein, als er mit seinem "Buch der Erinnerung" einen epochalen Roman vorlegte und sich in die erste Reihe der europäischen Schriftsteller hineinschrieb. Nun veröffentlicht Nádas ein neues Buch, eine Sammlung heterogener Texte von unterschiedlicher Länge, die in den letzten dreißig Jahren entstanden sind. Die im Bandtitel genannte "Kleine Prosa" lässt Fiktives erwarten, doch haben die Texte mitunter auch eher halbfiktiven Charakter. Kurze Erzählungen (hie und da auch nur im Projekt, im Keim existierend) stehen neben Tagebucheinträgen, Traum- und Reisenotizen, Reflexionen und Aphoristischem. Manches erscheint als abgeschlossen, anderes hingegen stellt sich als fragmentarisch, flüchtig, skizzenhaft dar. Fertiges und weniger Fertiges.
Péter Nádas hat Auswahl und Zusammenstellung der deutschen Ausgabe selbst besorgt. Die bunte Mischung erhält einen besonderen Reiz, wenn man die einzelnen Stücke probeweise zueinander in Beziehung setzt. Dadurch entstehen spannende neue Lektüren. Erstreckt man den Namen des Titelstücks, "Freiheitsübungen" (1999), des längsten und jüngsten Texts im Band, beispielsweise auf die anderen Texte, kann dies die doch leicht verstörende Frage provozieren, wer sich denn nun hier in was für Freiheit(en) übt. Denn anders als es der Klappentext - wohl aus den üblichen Gründen der Werbung - ankündigt, sind in diesem Band nicht nur Texte aus der Zeit nach der Wende versammelt, sondern auch solche aus den 70er Jahren. Es geht deshalb nicht mehr allein um die neu gewonnene Freiheit des ungarischen Volkes nach dem Fall des Kommunismus; eine Freiheit, die Nádas übrigens auch durchaus als zwiespältig darzustellen weiß.
Einen vollständigen Überblick über alle im Buch angesprochenen Themen zu geben, ist beinahe unmöglich; es sind einfach zu viele. Neben den Passagen, in denen Péter Nádas über die Veränderungen seit der Wende reflektiert, sind vielleicht jene Stellen am beachtlichsten, wo er die Literatur selbst zum Thema macht: sein eigenes, aber auch fremdes Schreiben. So beklagt er in "Freiheitsübungen" die seiner Ansicht nach unterentwickelte Literaturkritik in den ungarischen Feuilletons. Die ungarischen Redaktionen nähmen kaum zur Kenntnis, was die führenden internationalen Zeitungen schrieben. Hier wird Nádas' Enttäuschung offenkundig: Die Wende hat nicht den von ihm erhofften Hunger nach Informationen gebracht. Nádas schließt beinahe verärgert: "Die Pressefreiheit, meine lieben Brüder, ist nicht einfach ein verfassungsrechtlicher Zustand, sondern ein von freien Bürgern herbeigeführter verfassungsrechtlicher Zustand."
Eindrücklich ist Nádas die Beschreibung von Verurteilung und Hinrichtung des rumänischen Diktatorenehepaars Nicolae und Elena Ceausescu gelungen. In "Großes weihnachtliches Morden" schildert er, was ihm ein Jahrzehnt nach den Ereignissen beim erneuten Betrachten der Fernsehbilder durch den Kopf geht: Er registriert die Angst des Standgerichts und der Soldaten, ja deren dilettantisches Vorgehen beim Aburteilen der Ceausescus; er nimmt wahr, wie sogar der Kameramann sich einmischt. Schließlich beobachtet Nádas, wie der Arzt für ihn eine Grenze überschreitet, weil er nicht nur den Tod des Diktators feststellt, sondern auf Bitten des Kameramanns hin den Kopf des Toten ins Bild hält: "Heb den Kopf hoch, wir wollen sehen, daß er tot ist!" Der Arzt zögert zunächst, gehorcht dann aber und zieht Ceausescus Augenlid herunter, "damit wir in das tote Auge des Diktators blicken können." Damit aber, meint Nádas, "mit dieser verheerenden Sinneswahrnehmung tragen wir die Logik der Diktaturen ins nächste Jahrtausend hinüber."
Der Klappentext des Bandes sollte vielleicht eine Art Chronik Ungarns seit der Wende suggerieren. Trotz der möglichen Bezüge unter den einzelnen Prosatexten wird jedoch ein eigentliches Grundprinzip, das bei der Auswahl der Stücke Pate gestanden haben könnte, nicht ersichtlich. Zu unterschiedlich sind die Texte in formaler und thematischer Hinsicht. Als "Notate" haben gewiss auch flüchtige, spontan hingeworfene Gedanken ihre Berechtigung. Hier denkt man als Leser bisweilen an Fingerübungen. Auf dem Hintergrund der wirklich starken Stücke des Bandes ist allerdings nicht ganz zu vermeiden, dass manche dieser Fingerübungen eher banal und belanglos erscheint. Dort aber, wo Nádas präzis registriert und konzentriert reflektiert, dort ist seine Prosa wohl am besten.
![]() | ||
|
||
![]() |