Avantgarde der Vernichtung

Leo Perutz' Roman "Der Marques des Bolibar"

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1882 in Prag geborene Leo Perutz gehört zu jener Generation, die beide elementaren Katastrophen des 20. Jahrhunderts miterlebte. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg versucht er die Frage zu beantworten, wie es dazu kommt, dass Menschen sehenden Auges ihren eigenen Untergang vorantreiben. Dieses damals (wie heute?) höchst aktuelle Problem analysiert er in einer Erzählung aus der Zeit der napoleonischen Kriege. Es handelt sich also bei "Der Marques de Bolibar" um eine Aitiologie in der Form eines historischen Romans. Das festgehalten sollte man sich nicht vom sprachlich großartig imitierten Zeitkolorit dazu verführen lassen, die von den Militärhistorikern eruierte Geschichte der beiden Regimenter 'Nassau' und 'Erbprinz von Hessen' mit dem Roman zu vergleichen. Wir haben es eben mit einer Ursprungserzählung zu tun, die Gegenwart verstehen will, aber nicht Geschichte schreiben.

Was im Winter 1812 in der asturischen Bergstadt La Bisbal passierte, die von den hessischen Truppen für die Franzosen besetzt wurde, erfahren wir nach dem Willen Leo Perutz', eines Meisters gewiefter Romankonstruktionen, aus den Memoiren des einzigen Überlebenden des Desasters, des Herrn von Jochberg. Es beginnt mit der Hinrichtung des als Maultiertreiber verkleideten Marquis de Bolibar, der die Besatzer aus seiner Heimatstadt vertreiben möchte. Ohne zu wissen, wen sie vor sich haben, liquidieren die nassauischen Offiziere den Maultiertreiber, weil dieser Zeuge ihrer Prahlerei über ihre Erfolge bei der verstorbenen Gattin ihres Obersten wurde. Den letzten Wunsch des nicht erkannten Marques, eine ungetane Arbeit auszuführen, versprechen die Soldaten zu erfüllen, ohne zunächst zu merken, dass es sich darum handelt, die Signale für die Guerilla und den Volksaufstand in La Bisbal zu geben.

Von einem tödlich verwundeten Kollegen werden die Leutnants schließlich von der Bedeutung der Signale in Kenntnis gesetzt. Es ist bewundernswert, wie Leo Perutz jetzt eine Handlung ablaufen lässt, in der die Akteure ihre Handlungsziele stets verfehlen und ihre eigene Vernichtung vorbereiten. Es ist dies eine Auffassung von Geschichte, deren Wurzeln in der christlichen und jüdischen Geschichtstheologie zu finden sind. Obwohl die Leser beständig Einblick in die Karten haben, verliert der Roman dabei keineswegs an Spannung.

Für den "in der Kriegsgeschichte aller Zeiten wohl einzig dastehenden Fall", dass ein Offizierskorps die Vernichtung des ihm anvertrauten Regiments "mit vollem Bewußtsein, ja beinahe planmäßig" herbeiführt, enthält das Buch verschiedene Erklärungen. Da sind die psychologisch stringent gezeichneten Motive der Offiziere, die aus Leidenschaft, Eifersucht oder Furcht die Signale auslösen; dann der Wunsch des Marques de Bolibar, durch den die Soldaten zu Vollstreckern des göttlichen Willens gemacht werden, und schließlich die Anwesenheit des Rittmeisters Baptiste de Salignac. Er wird von den Bewohnern des Städtchens für den Ewigen Juden gehalten, von Jochberg sogar mit dem Antichrist identifiziert. Die antisemitische Mythe vom Ewigen Juden, der zwar selbst nicht sterben kann, aber Tod und Verderben denen bringt, auf deren Seite er steht, ist sicher höchst problematisch. Leo Perutz bietet aber im Roman durch den aufgeklärten Offizier Eglofstein, der von sich sagt, "Ihr wißt, daß ich jede Art törichten Aberglaubens verachte. Ich kümmere mich den Teufel um Gott und um die Heiligen und die Nothelfer und was sonst an himmlischen Fabelwesen das eingebildete Paradies bevölkert.", eine bemerkenswerte Deutung: "Es gibt Menschen, die sind die Avantgarde der Vernichtung. Wohin sie kommen, bringen sie Unheil und Verderben. Es gibt solche Menschen, ich weiß es ..." Interessant ist, worin sich Salignac von den anderen Offizieren unterscheidet. Er ist nicht in die Affäre um die Frau des Oberst verwickelt und scheint als Soldat vor allem Ruhm und Gefahr zu suchen. Demnach könnte es auch heutzutage durchaus so eine Avantgarde geben.

Irritierend ist zuletzt der Schluss. Es kommt zu einer Verwechslung des Herrn von Jochberg mit dem ermordeten Bolibar. Jedenfalls trifft nicht erst hier das auf dem Klappentext angebrachte Tucholsky-Zitat aus seiner Besprechung in "Die Weltbühne" aus dem Jahr 1921 zu: "Es ist eine herrliche Sache, was der tote Marquis de Bolibar noch alles für Gefahren heraufbeschwört."

Der Band enthält ein informatives Nachwort von Hans-Harald Müller, von dem es in der Beck'schen Reihe auch ein Autorenbuch zu Leo Perutz gibt.

Titelbild

Leo Perutz: Der Marques des Bolibar. Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Harald Müller.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004.
270 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3552053050

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