Poetologie des "Schmerzes zum Mitsein"
Martin Jörg Schäfer animiert zur Re-Lektüre Celans und Heideggers durch Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy
Von Axel Schmitt
Theodor W. Adornos Frage, ob Dichtung nach Auschwitz noch möglich sei, war, obwohl auf gänzlich andere Weise, auch die Frage Paul Celans: eine Frage, unter deren Druck die Dichtung immer untragbarer wurde. Celans in seiner Bremer Rede 1958 geäußerte "Hoffnung", seine Gedichte könnten zur "Flaschenpost" werden und so die Vereinsamung in der Stummheit wenn nicht unbedingt aufheben so doch vielleicht punktuell durchbrechen, verschärft die paradox anmutende Frage nach einer Kommunikation, die abseits von Kommunikation verläuft, indem sie sich auf die Sprache angewiesen findet und gleichzeitig sprachlos bleibt.
Weil sich diese Frage unverkennbar in Celans Gedichte eingeschrieben hat und er sich ihr wiederholt ausgesetzt sah, akzeptierte er 1967 eine Begegnung mit Martin Heidegger in der Absicht, ihn - den Denker der Dichtung, aber auch den Denker des 20. Jahrhunderts - über seine Positionierung gegenüber dem Nationalsozialismus zu befragen und vor allem das beharrliche Schweigen zu brechen, das er seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs über Auschwitz gewahrt hatte: über die Massenvernichtung, dieses "Ereignis ohne Antwort", wie Maurice Blanchot einmal anmerkte.
Vor dem Hintergrund dieser emblematischen Beziehung zwischen Celan und Heidegger hat sich Philippe Lacoue-Labarthe in seiner Schrift "La poésie comme expérience" (1986), die die herkömmliche Buchform aufsprengt und sich zunächst einer essayistischen Form bedient, um schließlich bezeichnenderweise in bruchstückartigen Notizen auszuklingen, nach den Möglichkeiten und der Aufgabe von Dichtung gefragt und die These angedeutet, das Versagen der tradierten Symbolsysteme vor Auschwitz setze einen Schmerzaffekt frei, der - als eine Art ethischer Imperativ - eine bisher in den europäischen Kulturen weitgehend unbekannte Kommunikationsweise erfordere.
Martin Jörg Schäfer ist in seiner Hamburger Dissertation "Schmerz zum Mitsein" dieser Re-Lektüre Celans und Heideggers durch Lacoue-Labarthe nachgegangen und hat die Hintergründe, Tragweiten und Konsequenzen dieser Annahme detailliert nachgezeichnet: die problematische Patenschaft Heideggers, die von Lacoue-Labarthe übersehene performative Dimension im Schreiben Heideggers wie Celans, Celans bewusste Entstellung des Heidegger'schen Vokabulars bei seiner Zerstörung der ästhetischen Autonomie zugunsten einer Hinwendung zum ausgeschlossenen Anderen, die Ausblendung und das untergründige Insistieren des Wortes Schmerz im Schreiben Celans seit den frühesten literarischen Zeugnissen und die Verdichtung von Schmerzaffekt und Literarizität zur Grenzerfahrung im Schreiben Lacoue-Labarthes.
Im Zentrum der Untersuchung Schäfers steht Celans Büchnerpreis-Rede "Der Meridian" (1960), die sich bekanntlich explizit wie implizit mit Motiven aus dem Diskursvokabular Heideggers auseinandersetzt und so den Einsatz der Lacoue-Labarthschen Re-Lektüre Heideggers im Zeichen von Auschwitz komplementiert. Nach Lacoue-Labarthe verweist die schmerzhafte Vereinzelung des bindungslosen Daseins auf ein mögliches Mitsein mit Anderen, indem es den eigenen Schmerz gegenüber deren Vereinzelungsschmerz exponiert hat und so ein auf Mitsein ausgerichteter Schmerz geworden ist. Schäfer zeichnet in seiner Arbeit Hintergründe, Tragweiten und Konsequenzen von Lacoue-Labarthes Annahme für Literaturästhetik und Philosophie nach und stellt zutreffend fest: "Ein Schmerz zum Mitsein sprengt die ästhetischen und poetologischen Kontexte, in denen er nicht nur bei Celan, sondern auch bei Heidegger auftritt, und stellt so eine Beschränkung des Poetologischen auf eine eigenständige Sphäre der Kunst infrage." Bei den Texten Celans, Lacoue-Labarthes wie Heideggers handele es sich entsprechend um einen "Anriß des Poetologischen", "um seine umfassende Problematisierung wie um seine Überschreitung im Schmerz".
Schäfers Nachzeichnung dieses Anrisses des Poetologischen findet in vier Schritten statt: Der erste ist dem Diskurs Heideggers, der zweite dem Verhältnis von Celans Schreiben zu diesem Diskurs gewidmet, indem er noch einmal nach den Möglichkeiten eines Schreibens im Zeichen von Auschwitz fragt.
Für Lacoue-Labarthe stellt der nationalsozialistische Genozid an den europäischen Juden keinen radikalen Rückfall des abendländischen Humanismus in die Barbarei dar, sondern vielmehr eine radikale Konsequenz der philosophischen Tradition, durch die letztere zunächst erschüttert und schließlich außer Kraft gesetzt wird. Dass Lacoue-Labarthe mit Heideggers geschichtsphilosophischer Konzeption der 'Zäsur' schließlich gegen dessen eigenes Verstummen nach 1945 argumentiert, was dementsprechend als philosophisches Versagen gedeutet wird, verdient auch zukünftig mehr Beachtung - vor allem angesichts der in den letzten Jahren erneut mit erheblicher Vehemenz geführten Debatte um Heideggers Verstrickung in nationalsozialistische und nationalästhetizistische Diskurse. Aufgegriffen wird Peter Szondis in seinen "Celan-Studien" (1972) explizierte Umwertung des Adorno'schen Imperativs, Celans Texte erlangten ihre Möglichkeit erst "auf Grund von Auschwitz", indem sie die Unmöglichkeit des Gedichts in das Gedicht selbst einschrieben. Da die Benennung von Auschwitz als "Grund" durchaus mehrdeutig ist, worauf Schäfer zu Recht hinweist, bleibt mit Werner Hamacher für Celans Lyrik zu unterstreichen, "daß dieser Grund des Gedichts ein Abgrund, daß er nicht die Bedingung seiner Möglichkeit, sondern die seiner Unmöglichkeit ist und daß das Gedicht nur noch zu sprechen vermag, weil es sich der Unmöglichkeit seines Sprechens aussetzt." In einem dritten Schritt seiner Untersuchung konfrontiert Schäfer die Thesen Lacoue-Labarthes exkursartig mit Derridas Re-Lektüre der Gedichte Celans unter dem Aspekt des 'Schmerzes', so dass in einem letzten Schritt die poetologische Skizze Lacoue-Labarthes, die um die Perspektive Jean-Luc Nancys aus dessen Text "Die undarstellbare Gemeinschaft" (1988) erweitert wird, in Differenz zu derjenigen Derridas verdeutlicht wird.
Versteht man Auschwitz mit Schäfer als "Telos einer Geschichte der Leugnung von Geschichtlichkeit und damit der Leugnung des auf Andersheit ausgerichteten Schmerzes und der auf Andersheit ausgerichteten Freude, mit denen Lacoue-Labarthe und Nancy in einer celanschen Rhetorik der Leiblichkeit das Daß der Geschichtlichkeit anreißen", so lässt sich eine "Poetologie des Schmerzes zum Mitsein", auf die diese Untersuchung zielgerichtet zuläuft, präziser fassen: Celans Vermeidung des Schmerzes - trotz beständiger Anspielungen in den Gedichten wird die Benennung von Auschwitz vermieden - löst nach Schäfer den Schmerz nicht auf, sondern "macht ihn zu ihrem gerade in seiner Abwesenheit stets bestimmend bleibenden Anstoßmoment". Nicht nur zahlreiche der den "Meridian" durchziehenden Anspielungen "bringen die Schmerz-Motivik indirekt in die Suche nach Mitsein ein und weisen die proklamierte Utopie von Begegnung als eine Utopie des Schmerzes zum Mitsein aus", sondern auch die Lyrik betont - in Anlehnung an Lacoue-Labarthe - eine vom herkömmlichen Subjekt befreite, auf Mitsein ausgerichtete Vereinsamung im Schmerz, wie sich dies vor allem an der späten Lyrik Celans eindrucksvoll ablesen lässt.
Bedenkt man, dass das komplexe, variantenreiche Verhältnis von 'Schmerz', 'Erinnerung' und 'Poetologie' sich erst seit kurzem als fruchtbares Forschungsfeld zu etablieren scheint, so liegt mit Martin Jörg Schäfers Untersuchung schon ein erster Meilenstein innerhalb dieses Diskurses vor, dem zudem das große Verdienst zukommt, Philippe Lacoue-Labarthes anregenden Überlegungen zu Celan endlich die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt zu haben und damit en passant zu unterstreichen, wie fruchtbar es sein kann, Celans Texte durch die Brille französischer (Literatur-)Theorie zu lesen.
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