Von Babyhemdchen bis Totenhemd

Han Kangs Meditationen in „Weiß“ über den Tod ihrer Schwester, der ihre Existenz erst möglich machte

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Medizin studiert, muss auch Histologie (Gewebelehre) und mikroskopische Anatomie lernen. Dafür gibt´s Atlanten und Lehrbücher. Um mikroskopische Strukturen sichtbar zu machen, wird gefärbt. Zellmembran, Kerne, Zellorganellen färben sich unterschiedlich: Nur dieser Kontrast erlaubt Verstehen. Die dabei entstehenden Schnittbilder sind meist bonbonbunt, die häufig verwendete Hämatoxylin-Eosin-Färbung zeigt das Rosa von Barbiepuppenkleidern.

Es gibt aber auch andere Bilder. Eines davon zeigt den Nachweis eines Hormons, das eine Rolle im Knochenstoffwechsel spielt. Das Bild sieht aus wie eine weiße Raufasertapete mit bräunlichen Einsprengseln (die zeigen eben das Hormon). Mit etwas kindlicher Phantasie kann man sich vorstellen, die braunen Grisseleien seien Gesichter, die aus einem Meer von Milch auftauchen, wieder verschwinden, wieder auftauchen. Assoziativ dazu fällt mir ein Gedicht Tomas Tranströmers ein:

Aber nicht Masken, sondern Gesichter jetzt sind es,
die durch die weiße Wand des Vergessens dringen,
um zu atmen, um nach etwas zu fragen.
Ich liege wach und sehe sie kämpfen
und verschwinden und wiederkehren.

Weiß also ist dieser Milchsee oder die Milchwand. Weiß ist hier irgendwie das Verschwinden, das Nichtmehrexistentsein, denn wer vergessen ist, denn gab es ja gar nicht. Weiß ist die Nichtfarbe, die alles verschluckt, sie ist die Summe aller Farben im Spektrum. Angenommen, alles wäre weiß, dann sähe man nicht nur nichts. Es gäbe nichts. Es gibt nur etwas, weil es (Farb-)Kontraste gibt, unterschiedliche Gegenstände gibt es nur, wenn sie sich farblich gegeneinander abheben. Symbolisch steht Weiß oft für Unschuld, Reinheit. Aber Farben haben natürlich nie nur eine Symbolik, eine Farbe bedeutet nie nur dies, aber nicht das.

Weiß ist die zentrale Farbe des Buches der koreanischen Schriftstellerin Han Kang. Verschluckt hier das Weiß alles? Nein, denn es ist hier immer vergegenständlicht – das Buch beginnt mit einer Liste von Gegenständen, auch abstrakten, über die Kang schreiben wollte:

Wickeltuch
Babyhemdchen
Salz
Schnee
Eis
Mond
Reis
Schaumkronen
Lilienmagnolien
Weißer Vogel
Weißes Lächeln
Blankes Papier
Weißer Hund
Weißes Haar
Totenhemd.

Listen strukturieren, indem sie behaupten, es gäbe in ihnen ein sie vereinigendes Prinzip, jeder Gegenstand der Liste hat was mit jedem anderen zu tun und, zumindest prima vista, ist jeder Gegenstand der Liste gleichgewichtig. Das Prinzip einer Liste kann auch trivial sein. Bei einer Einkaufsliste wäre das: alles, was man gerade braucht.

Bei Kangs Liste ahnt man schon bei Babyhemdchen, befürchtet es: Weiß als unschuldiges Strahlen hin oder her, hier könnte es dunkel werden. Und richtig hell wird es nicht, „Babyhemdchen“ passt zu gut zu „Totenhemd“. Im „Totenhemd“ kommt die Liste nicht nur an ihr Ende, sie gipfelt darin, vielleicht hat nicht jedes Element dieser Liste dasselbe Gewicht.  

Vor Han Kangs Geburt starb ihren Eltern ein Kind kurz nach der Geburt. Sie lebten in einem kleinen Dorf, die Mutter war allein, der Vater weit weg arbeiten. Als unvermittelt die Wehen einsetzten „kramte sie [die Mutter] in ihrem Nähkorb herum, bis sie ein Stück weißes Tuch fand, das für ein Babyhemdchen reichte. Unter Tränen nähte sie daran, während sie in den Wehen lag und fürchterliche Angst hatte“. Die Mutter bringt das Kind allein zur Welt, spürt irgendwie Bedrohung. Als sie ihr Kind im Arm hält, murmelt sie ununterbrochen: „Stirb nicht, bitte stirb nicht.“  Doch das Kind stirbt nach wenigen Stunden.

Getrennt und allein wird auch der Vater sein. Jahre später fragt ihn Kang, was er, als er vom Arbeiten kam, mit dem toten Kind tat: „‚Ich wickelte sie doppelt und dreifach in weiße Tücher, brachte sie auf den Hügel und begrub sie.‘‚Allein?‘ ‚Ja, ich war allein.‘“

Das also ist das Ende der Liste: das Totenhemd.

Das Spannende, Irritierende und zum Glück auch nicht ins Aufzählerische Auflösbare ist bei diesen Meditationen über ihre ältere Schwester, dass Kang die obige Liste nicht brav abarbeiten wird. Die Kapitel- und Titelabfolge eines Buches lassen sich ja auch als Listen verstehen, und hier wird es dann viel komplexer. Insgesamt gibt es drei Kapitel. Das erste heißt: Ich. Darin: Tür, Wickeltuch, Babyhemdchen, Mondförmiger Reiskuchen, Nebel, Weiße Stadt, Dinge im Dunkel, In Richtung des Lichts, Muttermilch, Sie, Kerze. Diese Überschriftenliste ist heterogen. Verwoben wird das alles dadurch, dass Kang zu jedem dieser Gegenstände oder Themen eine Erinnerung, Erinnerungen, angelötet an die Farbe Weiß, assoziiert; man könnte also von semantischen Entfaltungen der (Nicht-)Farbe Weiß sprechen.

Das zweite Kapitel lautet: Sie. Darin kommen vor: Raureif, Frost, Flügel, Faust, Schnee, Schneeflocken, Ewiger Schnee, Welle, Graupelschauer, Weißer Hund, Schneesturm, Asche, Salz, Mond, Spitzenvorhang, Atemwölkchen, Weiße Vögel, Taschentuch, Milchstraße, Weißes Lächeln, Lilienmagnolien, Weiße Tablette, Zuckerwürfel, Lichter, Tausende von Silberpunkten, Glanz, Weißer Stein, Gebleichter Knochen, Sand, Weißes Haar, Wolken, Glühbirnen, Polarnächte, Lichtinsel, Weiße Rückseite eines dünnen Papiers, Auseinanderstieben, Auf die Stille, Grenzen, Schilf, Weißer Schmetterling, Seele, Reis. Und wiederum wird jedes Thema, jeder Gegenstand, sei er konkret oder abstrakt, mit Weiß in Beziehung gesetzt oder verkörpert irgendwie etwas Weißes, stellt eine Emanation von Weiß in einem Gegenstand dar.

Das dritte Kapitel heißt: Alles weiß. Darin zuerst: ein Abschnitt ohne Titel, dann: Deine Augen, Totenhemd, Ältere Schwester, Wie eine Handvoll Wörter auf weißem Papier, Trauerkleid, Rauch, Stille, Untere Schneidezähne, Abschied, Alles weiß.

Wieder wird jeder der behandelten Gegenstände oder Existenzen mit Weiß vernetzt, um am Ende, im Abschnitt Alles weiß im Versuch Kangs zu gipfeln, das Weiß, das ja auch irgendwie – siehe Tranströmer – immer etwas vom Verschwinden von allem hat, zugleich als Auftauchen des Existierenden zu postulieren – oder vielleicht geht es auch darum, das, was nach dem Tod der Schwester auftaucht (Han Kang selbst), in seiner Existenz zu rechtfertigen und zugleich in Beziehung zum Weiß des Verschwindens der Schwester zu setzen: „In allen weißen Dingen werde ich dich spüren und für dich weiteratmen“ – es gibt also, das zeigen diese Meditationen, nicht nur das absolute Weiß, das leergefegte weiße Blatt des Vergessens, sondern auch die Erinnerung an eine und das Auftauchen einer kaum gewesenen Existenz im Medium der Farbe Weiß.

Titelbild

Han Kang: Weiß.
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee.
Aufbau Verlag, Berlin 2020.
151 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783351037222

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