Lesen in der Corona-Krise – Teil 8
Wiederlesen: Martin Meyer wagt sich an eine Erzählung über die unmittelbare Gegenwart
Von Sascha Seiler
Wenn die Corona-Krise zumindest eines aufgezeigt hat, dann ist es die Schnelligkeit, mit der heutzutage ein Buch geschrieben, lektoriert, hergestellt und vertrieben werden kann – auch und vor allem, wenn es sich um ein gedrucktes Buch handelt und nicht um ein wesentlich schneller unter die Leute zu bringendes e-book. Uns erwartet, soviel ist sicher, im Herbst eine Flut an Corona-Büchern, vor allem natürlich aus dem Sachbuch-Bereich. Auch die vielen Corona-Tagebücher und –Notizen, die das Netz fluten (auch bei uns, wohlgemerkt), werden wohl in Teilen ihr gedrucktes Pendant finden, zumal wenn sie von prominenteren Autor*innen stammen. Und doch erstaunt eine 200-seitige Erzählung zum Thema dann doch, handelt es sich doch um eine der erste fiktiven Abhandlungen einer Krise, in deren Mitte wir uns immer noch befinden.
Der Schweizer Journalist und Autor Martin Meyer hat sich daran gemacht, eine fiktive Geschichte zu verfassen, die nicht vorher in der Schublade lag und nun trendgerecht auf Corona umgeschrieben wird, sondern tatsächlich ihren Ursprung in der apokalyptischen Situation hat, die Italien im März 2020 heimsuchte. Dort spielt auch Meyers Text, der von einem 70-jährigen Buchhändler namens Matteo handelt, der eines Tages aufwacht und beginnt, an sich Symptome jener neuen Seuche zu entdecken, welche die Menschheit heimzusuchen begonnen hat. Matteo, der seit dem Tod seiner Frau vor wenigen Monaten alleinstehend ist, bekommt durch seine im medizinischen Bereich tätige Nichte Clara den Besuch eines Arztes vermittelt, der ihn auf die Seuche testen soll. Da der Buchhändler mit steigendem Fieber und deutlichem Unwohlsein zu kämpfen hat, wird ihm empfohlen, sich in häusliche Quarantäne zu begeben.
Dort beginnt er, berühmte Werke über vergangene Seuchen zu lesen und über diese im Kontext jener neuen, noch unbekannten Seuche, zu reflektieren. Er beginnt mit der Bibel, und landet via – unter anderem – Boccaccio und Thomas Mann schließlich bei Albert Camus. Von allem nimmt er ein wenig für die Bestimmung seiner eigenen Situation mit, aber auch für potenzielle Erklärungen, wo diese Seuche die Menschheit denn hinführen kann. Währenddessen werden seine Symptome deutlicher und er beobachtet das Sterben auf den Straßen.
Meyers Novelle kann für sich in Anspruch nehmen, einer der ersten (wenn nicht sogar der erste, je nachdem, welche Kriterien man anlegt) gedruckten fiktiven Texte über Corona zu sein. Dieser eingebürgerte, jedoch verallgemeinernde Name für das neue Virus wird im Übrigen außer im Titel in der Erzählung nur ein einziges Mal verwendet; es ist immer nur von „der Seuche“ die Rede. Dabei schleppt sich der Leser durch den teilweise extrem zähen Text, so ähnlich, wie sich Matteo durch die Tage der Quarantäne schleppt. Seine Reflexionen über die im Zeichen der Seuche wiedergelesenen Werke sind naiv und oberflächlich, das sollen sie wohl auch sein, sieht sich der Protagonist doch selbst nicht als Intellektuellen an, sondern eher als Handwerker, der sich eben mit dem, was er seinen Kunden anbietet, auch auskennen muss. Manchmal verursacht die Schönheit der ihm vorliegenden alten Ausgaben auch mehr Lust als die Lektüre derselben, was man einem Buchhändler nun wirklich nicht übel nehmen kann.
Doch der Lustgewinn beim Leser bleibt größtenteils aus, auch wenn man Meyers Mut bewundern muss, inmitten einer noch lange nicht abgeschlossenen pandemischen Situation diese Art von fiktionalem Zwischenbericht zu schreiben. Man wird sich irgendwann erinnern, wie das damals war, ganz am Anfang der Pandemie, als man noch wenig wusste…
Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.
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