Der Mythos des Nordens
Disharmonien in Karin Nohrs Roman „Kieloben“
Von Lutz Hagestedt
Die Norwegenreise der frisch verwitweten Inga führt auf „vermintes Kindheitsterrain“. Erinnerungen kommen hoch und werden mit denen der Geschwister abgeglichen. Es war eine harte Zeit, begleitet von Schlägen der Eltern und einem Missbrauchsfall durch den Kirchendiener.
Inga wird von ihrem Sohn als „Wortromantikerin“ bezeichnet. Trifft das Wort zu? Das ist zu bezweifeln. Inga spricht und denkt unromantisch, eines ihrer Lieblingswörter ist „Fakt“. Das Vorleben ihres Vaters erörtert sie wie folgt:
Ein junger Mann, kaum älter als ihr eigener Sohn, in einem aufgezwungenen Leben unter Männern, drei Jahre in polarer Kälte, die ihm in den Rücken gekrochen war. Zu einem One-night-Stand passte das Foto nicht. Das man damals nicht mit dem Handy schoss. Eine solche Aufnahme hatte etwas bedeutet. Außerdem gab es die handschriftliche Widmung. Sicher hatte der Vater Ingrid heiraten wollen nach dem Krieg.
Eine Wortromantikerin würde das deplazierte und deklassierende „One-night-Stand“ nicht einmal denken. Sie würde sich auch Gedanken machen über Faktizität und Geltung: Für einen Wortromantiker gibt es keinen Fakt. Vielleicht gibt es ein Faktum für ihn, womöglich eine Wahrheit, ganz sicher einen Glauben. Für Wortromantik wird hier zu wenig Sprache aufgeboten, Sprache im Sinne einer literarischen Ausdrucksform. Was wir erleben, ist Alltagsjargon. Disharmonien entstehen hier aus Tatsachenbehauptungen, die im Gestus der Familienaufstellung alte Konfliktlagen heraufbeschwören. Die Schatten der Vergangenheit werden zu Dämonen der Gegenwart: Was war „Fakt“, und was ist die „Schlussfolgerung“ daraus? Und was ist Faktum, was ist Verdrängung? Wie waren die Eltern wirklich, und wer hat die meisten seelischen Verletzungen davongetragen?
Die wenigen Norwegenbilder verblassen rasch, die Familiengeschichte rückt in den Vordergrund: War der Vater, Oberleutnant der Marine im besetzten Norwegen, an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen? Hatte die Mutter ein Verhältnis mit Pastor Kolb? Der graue Alltag als Sachbearbeiterin in der Rentenversicherung lässt Raum für Erinnerungen, die hochkommen, und die Inga nun mit den Geschwistern erörtern will.
Die üblichen Sprechblasen, die das Einschlägige sagen, sind zu wenig, man hat daran kein Interesse. Auf einem halb verwilderten Waldgrundstück mit Sommerhütte ziehen sich die quälerischen Dialoge zäh dahin: das „Neuralgische“ steht dem „Nostalgischen“ im Wege, Empfindlichkeiten legen sich wie Mehltau auf die Gesprächsatmosphäre. Darstellungsmängel gesellen sich hinzu. Der Schriftsteller Julian Barnes hat einmal einen bemerkenswerten Aufsatz über Madame Bovary geschrieben, speziell über die Farbe ihrer Augen. Autoren tun gut daran, die Augenfarbe ihrer Protagonisten genau zu kennen. Wie steht es hier damit? „Bei der Begrüßung war Inga aufgefallen, daß Markus auch des Vaters blaugraue Augen geerbt hatte.“ Wenige Seiten später erfahren wir, alle Niemann-Kinder, also auch Markus, hätten „das dumpfe Braun der Mutteraugen“ geerbt. Was soll nun gelten? Bei Julian Barnes, der ein genialer Beobachter ist, läuft ein (scheinbarer) Widerspruch in der Charakterisierung von Emma Bovarys Augen auf eine entschiedene Würdigung Gustave Flauberts hinaus.
Aber mit Flaubert hat dies hier nichts zu tun. Die vermeintliche Wortromantikerin ist sprachlich lieblos und uninspiriert in ihrer Gedankenrede, in ihren schriftlichen Mitteilungen an ihre Geschwister ebenso wie im Dialogischen. Sprachlich gesehen haben wir es hier eher mit unteren Registern zu tun, vor allem in der Figurenrede: „Hau weg den Scheiß“, rufen sich die Sachbearbeiterinnen in der Rentenversicherung zu: „Hier heilen wir nicht, wir hauen weg.“ Doch warum sollen Figuren nicht Jargon sprechen? Zugestanden, aber wenn der Prosa generell keine Besonderheiten gelingen, wenn nichts da ist, das von der Kunst der Darstellung lebt, ein Personalstil etwa, ja dann – dann wird eben bloß eine Geschichte transportiert. Die Hauptfigur leidet darunter, dass ihr die Mutter ihre „sehr schwierige Geburt“ täglich „aufs Butterbrot schmierte“.
Das Sprachliche ist also zweitrangig bis unerheblich. Wenn es beispielsweise im Deutschen eine Consecutio temporum gibt, so wird sie nicht entsprechend respektiert: „Die Hürde war gewachsen, je länger sie wartete.“ Schon das Bild stimmt nicht. Etwas später werden „können“ und „wollen“ als „Hilfsverben“ bezeichnet.
Idiomatisch falsch ist die folgende Wendung: „Euer Vater will kein Aufheben um seine Person.“ Ungrammatisch ist auch dieser Satz: „Seit Friedrichs Tod schaute Ulrike jeden Mittwoch auf ihrem Weg vom Tennis nach Hause vorbei.“ Unglücklich und ungeschickt wandern die Pronomina: „Inga fischte ein paar Salzstangen aus dem Gefäß. Sebastian hatte sie als Junge gern quer zwischen Oberlippe und Nase balanciert.“ Grammatisch prekär auch der nächste Satz: „Wie immer trank Ulrike ein Bier und Inga einen Wein.“ Die Herstellung eines Romans muss nichts mit Literatur zu tun haben.
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