Wechselnde Töne
In einem Essayband beleuchtet Karl-Heinz Ott die Einflüsse auf Friedrich Hölderlins Denken und die Wirkung seines Werks lehrreich und vergnüglich zugleich
Von Bernhard Judex
Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. […] Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit.
Sätze wie diese lassen zu jeder Zeit aufhorchen. Sie stammen aus jener Schrift um 1797, die als Ältestes Systemprogramm des Deutschen Idealismus bekanntgeworden ist. Eine eindeutige Klärung der Urheberschaft ist bis heute nicht gelungen. Auch wenn sich die Handschrift des Fragments Georg Wilhelm Friedrich Hegel zuordnen lässt, vermutete man in der Forschung ebenso Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Friedrich Hölderlin als eigentliche Verfasser. Mit gutem Grund: Alle drei Köpfe studierten zur gleichen Zeit am Tübinger Stift, der geistigen Kaderschmiede Süddeutschlands des 18. und 19. Jahrhunderts.
Angefeuert durch die Revolution links des Rheins verfolgten die Studenten, inspiriert nicht zuletzt von Friedrich Schillers Dramen, ähnliche Ziele – mit unterschiedlichem Resultat. Während Schiller seinen Lebensunterhalt als Dichter einigermaßen bestreiten konnte und Schelling wie Hegel als Universitätsprofessor von der Philosophie leben konnte, stand Hölderlin mehr oder weniger erfolglos zwischen beidem. Als Dichter mochte er zu seiner Zeit nicht recht reüssieren. Sein Dichtungskonzept, das in poetologischen Schriften beispielsweise auf den „Wechsel der Töne“ zwischen den Gattungsformen reflektiert, gilt als durchaus avanciert. Irgendwie passen seine Oden und Hymnen, sein Hyperion und seine Dramenfragmente bis heute in keine literaturgeschichtliche Schublade und nehmen eine Einzelstellung zwischen Klassik, Idealismus und Romantik ein. Aber auch zur Existenz als Philosoph reichte es nicht, obwohl er in einem Brief an Christian Ludwig Neuffer von 1798 schrieb, die Philosophie sei „ein Hospital, wohin sich jeder auf meine Art verunglükte Poët mit Ehren flüchten kann“.
Was er in einem seiner berühmtesten Gedichte (Patmos, 1803) verkündete – „Wo aber Gefahr ist wächst / Das Rettende auch“ –, galt für ihn selbst keineswegs. Seine hehren Ideale ließen sich nicht so einfach durchsetzen; selbst unter gleichgesinnten Zeitgenossen stießen sie zuweilen auf Unverständnis. Hölderlin scheiterte an dem unbedingten Glauben an die Macht des Geistes, den er den Deutschen mit seiner Dichtung so vehement einimpfen wollte. Die Nation erwies sich nicht zuletzt im politischen Sinne als resistent gegenüber seinen chiliastischen Erlösungsgedanken durch die Poesie, die Rückbesinnung auf die griechische Mythologie oder die Vereinigung der Gegensätze von Geist und Natur, von Intellekt und Gefühl. Hölderlin verdiente seinen Lebensunterhalt als Hofmeister in wechselnder Stellung, er blieb ein rastlos umhergetriebener Wanderer – bis zu seinem psychischen Zusammenbruch, der ihn die letzten 38 Lebensjahre in einem von der Forschung unterschiedlich interpretierten Zustand zwischen Wahnsinn, Zerrüttung, Sensitivität und Weltabgewandtheit verbringen ließ.
Karl-Heinz Ott hat in seinem rechtzeitig zum 250. Geburtstag des Dichters erschienenen Essayband Hölderlins Geister nicht nur zahlreiche Aspekte dieser schwierigen Biografie skizziert. Zugleich und vor allem zeigt er, wie der Dichter „des Mythos“ und „des Nationalen“ zur wechselnden Einschreibfläche sowohl rechter als auch linker Ideologien und Diskurse wird. An ihm, bis heute einer der faszinierendsten Vertreter der modernen deutschsprachigen Literatur, schieden sich, je nach politischer Tendenz beziehungsweise geistesgeschichtlicher Großwetterlage, die Geister. Die Tonarten und die inhaltliche Interpretation wechselten damit zwischen den unterschiedlichen Aspekten, die sein Leben und Werk herzugeben imstande schienen. Otts ebenso gehaltvolle wie pointiert, an einigen Stellen vielleicht etwas zu flapsig formulierte Untersuchung ist ein kurzweiliges Panorama der deutschen Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Titel scheint noch dazu klug gewählt, geht es doch zum einen um die Quellen und geistesgeschichtlichen Vorbilder für Hölderlins Denken und Dichtung, zum anderen um die so widersprüchliche und langanhaltende Rezeption des Hölderlin’schen Geistes durch die Nachwelt.
Beleuchtet werden zunächst (im Kapitel „Tübinger Visionen“) die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede in den Ansätzen Immanuel Kants, Hegels, Schellings sowie später Friedrich Nietzsches – Stichwort Dionysos – im Vergleich zu Hölderlins Idee, die Zersplitterung der Moderne durch den Rückgriff auf den antiken Mythos, die Vereinigung alles Getrennten, zu erlösen. Dass Hölderlin nicht nur im Deutschland um 1800 politisch – und dementsprechend oft falsch – gelesen wurde, zeigt sich am allerdeutlichsten wohl an Martin Heideggers Lektüre des Dichters (Kapitel „Der bräunliche Hölderlin“). Aber auch die Mitglieder des George-Kreises sowie Ernst Jünger, Norbert von Hellingrath oder Alfred Bauemler sahen in Hölderlin einen prophetischen Wahlverwandten und zeigten sich fasziniert von seinen Versen, beklagten diese doch offenbar ebenso wie man selbst die Verfallserscheinungen der Moderne, den Verlust der organischen Einheit des „Daseyns“ als scheinbare Folge der Aufklärung und die Entfremdung der Menschheit.
Zumindest wollte man Hölderlin in dieser Richtung verstanden wissen. „Bauemlers Kampf gilt unserem selbstzerstörerischen Rationalismus, unserer „humanistischen Begriffskultur“ und dem sezierenden Geist des wissenschaftlichen Denkens“, fasst Ott knapp zusammen. Begriff Hölderlin die sogenannte „Vaterländische Wende“ zu seiner Zeit allerdings als Rückgriff auf das verlorene Eigene im Sinne der griechischen Antike, den Ursprung unserer abendländischen Kultur, um das „Nationelle“ und den deutschen Geist neu zu formieren und zu versöhnen, so verrannten sich viele Exegeten des Dichters nicht erst ab 1933 in blindem Nationalismus und germanischem Weihekult (dessen Ursprünge freilich schon weit früher zurückreichen und ihre Anleihen eben mitunter bei Hölderlin nehmen – man denke hier nur an die oft interpretierte Hymne Der Rhein und das bloß wenige Jahre nach ihr von Max von Schenkendorf verfasste Lied vom Rhein, das den Gründungsmythos eines geeinten Deutschlands befördern sollte).
Landete Hölderlin noch im Tornister der Wehrmachtssoldaten, die für ein „1000-jähriges Großreich“ kämpften, so begann in den 1960er Jahren ein jäher Wechsel in der Rezeption des Tübinger Stiftsabsolventen. Pierre Bertaux hatte sich schon zuvor mit der Frage beschäftigt, inwieweit Hölderlins psychische Krisis nicht auch eine bewusste Inszenierung gewesen sein mochte, um einem gesellschaftlichen Zwangssystem, aus dem er selbst keinen Ausweg mehr sah, zu entfliehen („Die Wahnsinnsmaske“). Der französische Germanist ist von Hölderlins Jakobinertum überzeugt und prägte die These, der Dichter sei nicht geisteskrank gewesen, sondern habe dies nur vorgetäuscht. Hölderlin wird nun zu einer Art Gallionsfigur linker Befreiung, die ihn von den Schlacken der braunen Vereinnahmung gründlich reinigt, so etwa bei Ernst Bloch, Peter Weiss, Heiner Müller oder Peter Härtling. Auch für Georg Lukács steht „fest, dass Hölderlin zu Marx führt, so wie auch Büchner. […] Was Marx wissenschaftlich auf den Nenner bringt, verschwimmt bei Hölderlin in dichterischer Phantasie.“.
Ebenfalls neu interpretiert und gelesen wird Hölderlin durch Peter Szondi sowie durch Michel Foucault und Jacques Derrida. Da befindet sich D. E. Sattlers in den 1970er Jahren begonnene Faksimileausgabe der Werke im Verlag Roter Stern in guter Gesellschaft, auch wenn sie von philologischer Zunft vielfach missfällig aufgenommen wurde. Aufschlussreich sind nicht zuletzt die Parallelen Hölderlins zu Jean-Jacques Rousseau, nicht nur was dessen Naturbegriff und die Sehnsucht nach Entgrenzung anbelangt, sondern auch dessen pädagogischen Ideale, die sich nicht mit der ernüchternden Wirklichkeit messen ließen. Schon damals entsprachen die Zöglinge eben nicht den Vorstellungen ihrer Erzieher – Hölderlin verzweifelte schier an dem Laster der Selbstbefriedigung, dem sein Schüler Fritz von Kalb frönte.
In den beiden abschließenden Kapiteln („Griechisches Licht“ und „Forever young“) kommt Ott noch einmal auf die Grundlagen von Hölderlins Denken und Weltbild zurück und zeigt, wie der in Lauffen am Neckar geborene Dichter die griechische Antike rezipiert und in seine schwäbische Heimat hineinholt. Einen nicht unwesentlichen Stellenwert in der problematischen Biografie Hölderlins dürfte neben der Suche nach einem identitätsstiftenden männlichen Vorbild – der leibliche Vater war früh verstorben – die starke Mutterbindung gespielt haben. Geradezu grotesk sind die brieflichen Mitteilungen, die der ‚wahnsinnige‘ Dichter aus seinem Turmzimmer in Tübingen an sie verfasst.
Hölderlins Geister liest sich sowohl für den gut informierten Forscher als auch für den interessierten Literaturliebhaber, der auf einen Überblick über die wechselhafte Rezeption des Dichters oder überhaupt der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aus ist, gleichermaßen spannend wie lehrreich. Durch die klare Struktur und Sprache der essayistischen Texte hebt sich Ott vom oft einschüchternden Jargon vieler literaturwissenschaftlicher Untersuchungen wohltuend ab. Zugleich bleibt seine Studie kenntnis- und detailreich, allein in der Fülle aller erwähnten Namen und anzitierten Texte. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt sie dabei nicht. So mag man beispielsweise den Hinweis auf Stefan Zweigs Hölderlin-Charakteristik (in Der Kampf mit dem Dämon, 1925) ebenso vermissen wie eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Hölderlin-Rezeption bei Gustav Landauer, Theodor W. Adorno oder auch in der Lyrik nach 1945; der Lust an der Lektüre tut dies keinen Abbruch.
Eine Anregung, sich immer wieder neu mit Hölderlins faszinierendem, vielschichtigem Werk auseinanderzusetzen und sich auf seine Verse selbst zurück zu beziehen, gibt Ott am Ende des Buches:
Warum lässt man es nicht einfach bei Hölderlins überwältigender Sprachmusik? Bei seinem hochtönenden Rühmen, Klagen, Denken, Mahnen, ohne dass man gleich weltanschauliche Wahrheiten daraus schmiedet? […] Die späten Hymnen scheinen weltanschaulichen Ballast abzuwerfen. Sie weisen tatsächlich ins Offene, gerade in ihrem Zerbrochenen. Dagegen kommt einem bei Hölderlins prophetischen Versen gelegentlich Goethe in den Sinn: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
Vereinnahmen und vor den ideologischen Karren spannen lässt sich der Dichterphilosoph heute wohl sowieso nicht mehr.
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