5.-10.3.2017 – Glück

5.3.2017

Gestern konnte ich das Starenmännchen mit glänzendem Bauch auf einem Häuschen fotografieren. Ich zeige es dem Nachbarn, also dem Starenhausbauer, der wegen seiner Augen nur noch selten herauskommen kann, und er sagt: zuerst kommt immer das Männchen das Haus anschauen und es vorbereiten. Dann ruft er ein Weibchen. Sie muss es annehmen, sonst muss er weitersuchen. Der Nachbar muss es wissen, er hat mehr als 60 Jahre mit den Staren gelebt.
Als ich heute morgen vom Feldweg zurückkomme, hüpft der Mann aus dem Häuschen und fliegt zur Akazie, gleich darauf auch die Frau. Es ist so ein Glück.

Glück habe ich auch mit meiner ersten Leserin. Sie möchte weiterlesen. Mehr kann ich mir nicht wünschen. Bin ermutigt weiterzumachen. Und vielleicht eine zweite Leserin zu wagen. In Finnland?

Auch ein Land, wo ich gerne einmal wäre, aber nicht hinkomme –
Da war doch mal Gottfried Benn und Meinen Sie Zürich zum Beispiel – ?

Was habe ich da mit siebzehn geschrieben in dem Aufsatz, der so unvergesslich gut bewertet wurde? 1000 km durch Deutschland waren meine ganze Welt. Ich glaube, ich fand Deutschland damals so schön wie heute. Und bin dort angekommen, wo ich heute bin und bleiben will.

Reisen

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und Stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

Ziemlich altklug finde ich das heute für eine Siebzehnjährige. Als könnte sie sich den Weg durch die Welt ersparen.

Da gefällt mir Kleist immer noch besser und wie er das Marionettentheater zum Ende führt:

Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns;
wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen,
ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.

Ach, Kleist!
Auf dem Königsplatz in unserer Stadtmitte lösten sich gerade zwei Polizisten ab, als ich von der Uni nach Hause fuhr, um schnell Mittag zu kochen, bevor Mann und Kinder heimkamen. Ich hatte zum ersten Mal meine damals psychoanalytisch ausgerichteten Gedanken vorgetragen und war gehört worden. Und für gut befunden. Es muss der Kohlhaas gewesen sein. Und als ich mitten auf dem Platz zwei Polizisten sah, wo immer nur einer stand, war ich sicher, es würde jetzt immer so sein: alles doppelt. Ganz klar. Ich hatte die Welt gewechselt.

6.3.2017

Ich muss weitergeben, was mich gestern vor dem Einschlafen zum Lachen gebracht hat, als ich Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt weiter las.
Vor dem Einschlafen ist es leicht, mich zum Lachen zu bringen. Als ich im Dezember draußen schlief und das Lesen wegen der kalten Hände ungemütlich wurde, stellte ich mir vor, ich würde Handschuhe anziehen, um das Buch zu halten, und konnte gar nicht aufhören zu kichern. Lederhandschuhe, Wollhandschuhe, Skihandschuhe? Nicht nur, dass ich mich anziehe, wo sich andere ausziehen, fürs Schlafengehen jetzt auch noch Handschuhe!

Jetzt Kehlmann und Alexander von Humboldt, der auf dem Amazonas unterwegs ist, als ihn ein Ruderer bittet, auch einmal etwas zu erzählen:

Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt, auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das Schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.

Das ist doch?!? Klar – Goethe: Wandrers Nachtlied

Über allen Gipfeln ist Ruh. In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde ruhest du auch.

Bei Kehlmann weiter:

Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Humboldt griff nach dem Sextanten.
Entschuldigung, sagte Julio, das könne doch nicht alles gewesen sein.
Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zur  Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf. Mit einer schnellen Bewegung packte er den Affen…

Ich freue mich schon auf heute Abend. Vielleicht gibt’s da ja wieder was zum Kichern.

Fußnote ( jetzt geht’s aber los – fast möchte ich mich entschuldigen, habe doch nicht erwartet, das soviel längst Vergangenes herauf gespült wird):

zwanzig Jahre nach Benn habe ich – inzwischen ordentliche Germanistin – in Goethes Nachtlied und Eichendorffs Mondnacht hermeneutisch den Sinn gesucht – und gefunden? Aber wo – zum Teufel – ist er geblieben?
Dort vielleicht, wo ich mir – wie so viele andere auch – als Abschiedslied die letzte Strophe der Mondnacht wünschen würde.
Die drei Tage, die Zeit, die wir gelernt haben, den Seelen unserer Verstorbenen zu lassen, stelle ich mir in der Veranda vor, in der ich, solange ich lebe, inshallah, von Weihnachten bis Frühlingsanfang meinen Winterschlaf halte. Für mich wäre es dann ja immer Nacht.

Aber etwas ganz anderes: Die Sache mit dem Glück. Und mit Marx.
Das Glück nicht mehr allen versprochen, also gar nicht, der Marx wieder da und im globalisierten Turbokapitalismus so nötig wie noch nie.
Dass man sich heute von dem Anspruch auf Glück als Grundrecht verabschieden müsse, dass die selbstverständlich gewordene Glücksberechtigung ins Unglück führt. Endlich sagt einer, was ich denke – Carlo Strenger: Abenteuer Freiheit.
Und meine persönliche Glücksgeschichte braucht mal wieder ein Update. Als ich 40 Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal den Gedanken gehabt: man darf sich Glück wünschen, vorstellen, denken. Mir ist ganz schwindelig geworden, ich musste gerade von der Hauptstraße in die Straße abbiegen, in der ich lebte, und dachte: jetzt haut es mich aus der Kurve. Dass dieser Gedanke auch für mich erlaubt war, kam mir vor, als hätte ich das Tor eines Gefängnisses aufgestoßen, nein: gesprengt, und merkte erst jetzt, dass es ein Gefängnis gewesen war.
Dann habe ich gelernt, geübt, mich der Erlaubnis, Glück zu wollen, versichert, dazu auch die die amerikanische Verfassung gebraucht, die mit dem Glück der Freiheit beginnt, das es zu bewahren gilt. Und heute? Kann es ein Recht auf etwas geben, das so vielen verwehrt wird? Mit der Frage ist wie immer die Antwort auch schon da. Natürlich nicht.
Hilft die Dialektik: erst Unglück – dann Glück – und was kommt dann? Was wäre die Synthese aus beidem und die neue – verheißene – Wirklichkeit? Warum sehe ich da nur Zerstörung?

7.3.2017

Mir ist ein Schauer über den Rücken gelaufen, als ich hörte, wie die Datei ohnesinn nach Finnland abgerauscht ist. Wieder habe ich Mut gebraucht.

Nicht Schwäche, sondern die Angst vor Schwäche nimmt mir die Kraft. Wenn Menschen da sind, die auch anpacken, tue ich auf einmal gerne, was ich schon monatelang vor mir hergeschoben habe, ohne gleich wieder müde zu sein. Wenn einer da ist, der das Schwere angreift, fällt es mir leicht, das zu tun, was ich kann. Soviel zum Körper.
Und der Kopf? Immer wieder diese Leerstellen, wo gerade noch etwas war. Alles sofort tun, damit es mir nicht dauernd als vergessbar und versäumbar einfällt und mich erschreckt: Woran hätte ich denken müssen?
Nachdem ich vor vielleicht dreißig Jahren für mich entdeckt habe, dass vergessen einen Sinn hat, den zu verstehen immer überraschend und oft interessant ist, habe ich nur das getan, was mir einfiel. Und mir fiel immer das Richtige zur rechten Zeit ein. Auch das Unangenehme, wenn es nötig war. Ich konnte mir vertrauen. Ich kann mich nicht erinnern, dass noch einmal etwas so Unangenehmes passiert ist, wie mein Vergessen der Magisterprüfung, deren Datum jeder kannte, mein Prof, mein Mann, wahrscheinlich auch die Kinder und ich natürlich auch.
Und jetzt?
Bei der ersten Wahrnehmung von Vergesslichkeit, die einem mit den Jahren wohlwollend großzügig zugestanden wird, habe ich angefangen, dieses Vertrauen in Frage zu stellen, dann aber am Vertrauenwollen festgehalten. Wenn etwas schiefgehen würde/wird, wäre/ist es nicht so schlimm, wie dieses Vertrauen aufzugeben. Dann bliebe ja nur noch Ängstlichkeit.
So ging es dann bis jetzt irgendwie. Eingeschränkte Haftung gewissermaßen. Aber nun kommt es mir so vor, als sei auch da ein Update nötig. Wie das aussehen kann, weiß ich noch nicht. Da bin ich so ratlos wie mit den Mäusen.

8.3.2017

Hier ging es nicht weiter. Noch eine vertraute Erfahrung, die ich mal wieder anwenden muss: Nur wenn ich nein sagen kann, kann ich auch ja sagen. Es funktioniert augenblicklich. Schon der Gedanke, dass ich das denken darf, genügt. Heißt soviel wie: ich muss den Text nicht schreiben. Ich muss heute nicht daran schreiben. Sofort habe ich Lust, von meinen Mäusen zu erzählen.
Übrigens: mogeln geht nicht, es muss wirklich gemeint, nicht nur gedacht sein. Sonst funktioniert es tatsächlich nicht.

Jetzt also die Mäuse.
Wühlmäuse sind schrecklich. Heute hatte ich einen Rosenstock in der Hand, der an der Westseite zum Vordach hinauf ranken sollte, und einen Zierapfel, mit dem ich Vögeln eine Freude machen wollte. Der Wacholder daneben fällt bald um. Im vergangenen Jahr waren es drei Rosenstöcke und der Quittenbaum. Davor die Apfelbäume. Und immer hatten sie schon geblüht und getragen.
Die Mäuse sind wunderschön.

Als ich noch nicht hier gewohnt habe, sind die Mäuse in meiner Abwesenheit in die vorbereiteten Fallen gegangen. Wenn die Falle die Maus richtig erwischt hat, sieht diese unversehrt aus. Ich konnte sie lange anschauen und streicheln. Sie haben das feinste Fell, das ich mir vorstellen kann, es ist eine große Zärtlichkeit in den Fingerspitzen, wenn ich sie berühre. Und diese riesigen winzigen Augen in dem kleinen Kopf. Irgendwann habe ich sie immer über die Hecke auf die Wiese hinaus geworfen.
Seit ich hier lebe, gehen sie kaum mehr in die Fallen im Gegensatz zu meinem Daumen, den hat es wieder erwischt, aber das Schwarze wird in zwei Wochen ausgewachsen sein. Fünf Fallenmodelle habe ich schon ausprobiert und unterschiedlichste Angebote gemacht.
Sie gehen nicht darauf ein, stattdessen haben Pullover und Schlafsäcke und Betten Löcher. Die Mäuse nehmen gern das beste Material: Seide und feinste Wolle. Löcher finde ich in dem einzigen Modellkleid, das ich in meinem Leben gehabt habe. In der Schweiz war Ausverkauf, als ich meine Freundin besuchte und sie meinte, es müsse sein. Versace kostete nur noch 500 Franken. Ich habe toll ausgesehen, wirklich. Dreimal. Es wurde als Restmüll entsorgt. Den langen schwarzen Mantel mit samtgefütterter Kapuze lasse ich hängen, als ich die Zerstörung sehe. Vielleicht bleiben die Viecher eine Weile bei dem.
Wir finden Nester, als wir die Küche umbauen, Spaghettistückchen und Schnipsel vom Grundbuchauszug. Überhaupt die Ränder der Ordner ganz oben im Regal. Alles angefressen, was da hinein gehört.
Im Auto sind sie auch. Dinge sind heute nicht dort, wo sie gestern waren. Es stinkt, beim Staubsaugen finde ich Nester. Wir fahren einmal nach Coburg und zurück.
Letztes Jahr hatte ich die Hoffnung auf Minzöl, ein zufällig gefundener Tip, als ich im Netz nach Kammerjägern schauen wollte. Dann war kein ausgelegtes Käsestückchen mehr verschwunden. Ich tröpfle immer noch täglich Minzöl auf Holzstücke und lege sie aus, wo die Viecher, die sich so dünn wie ein Bleistift machen, hereinkommen könnten, wenn ich Türe oder Fenster aufmache.
Gestern habe ich den vierten Band von Johannes Bobrowski aus dem Regal genommen wegen des DEFA- Films Lewins Mühle, den ich unbedingt anschauen sollte. Das hatte mir die Freundin meiner Freundin sehr herzlich empfohlen, als wir im Gespräch auf unsere Reisen nach Polen und Litauen kamen. Da hatte ich einen an den Rändern zerbissenen Einband in der Hand. Sie waren wieder da. Nur zwei Meter von meinen Ohren entfernt, wenn ich im Winter die Abende auf dem Sofa verbringe. Früher habe ich sie gehört ab und zu, aber nie hier in der Wand mit dem Büchern. Wann hatte ich den Bobrowski zuletzt in der Hand?
Wenn Nüsse neben der Schale liegen, muss ich mir sagen, dass sie nicht von selbst aus der Schale gehüpft sind. Haben sich meine Mäuse inzwischen an Minze gewöhnt?
Und ich frage mich wieder, wie es gehen kann, mit Mäusen im Haus zu leben.
Draußen haben die Mäuse das Recht, hier zu sein. Schließlich waren sie schon lange vor mir da.
Die Hoffnung kann ich nicht haben, dass sie eines Tages weiterziehen wie die Biber, die jahrelang Bäume geholt haben, als wir denen noch kein Gitter um die Füße gespannt hatten. Zuallererst haben sie die schöne alte Trauerweide am Weiher gefällt. Ich hörte es knarren und krachen, ich schlief ja draußen, und sah dann, wie die dünnen Äste hin und her schwankten über dem Stamm, der am Boden lag. Haselnussbüsche habe ich gerne den Bibern überlassen, da nahmen sie mir Arbeit ab. Aber alle Bäume, die ich behalten wollte, habe ich dann geschützt. Seit letztem Jahr sind die Biber weitergezogen. Sie werden wiederkommen. Das ist sicher. Aber vielleicht bin ich dann nicht mehr hier.
Draußen suche ich Löcher in der Erde, drücke eine Mäusevertreibpaste hinein und stopfe sie mit Erde fest zu. Und ich steche mit dem Spaten in die Erde um die Bäume und gebe auch da Paste hinein. Noch ein paar Topfen Minzöl dazu? Hoffe ich? Nein. Oder doch ein bisschen.
Il faut imaginer Sisyphe heureux. Dass ich mir Sisyphus glücklich vorstellen soll. Update?

9.3.2017

Blaue Spiegel
sind auf den Weg gefallen
und doch hat der Himmel kein Loch

Der Wind hat die Wolken mit Zeitraffer vor dem Mond vorbei gejagt. Wie in manchen Serien, wo Wolken über blauen bayerischen Himmel fegen, Autos durch die Straßen von Stuttgart oder Berlin sausen und die weißhaarigen Münchner Kommissare zeitgerafft von einem Zimmer ins andere rennen, als hätte der Zuschauer gerade keine Zeit. Beschleunigung gegen Entschleunigung oder umgekehrt?
Dabei hat es mich doch schon lange aus der Kurve getragen.

10.3.2017

Drei Stare waren es heute morgen, zwei Männchen und ein Weibchen. Sie hüpfen von einem Haus ins andere und wieder zurück, alle drei. Ihr Ruf ist leise, wie zaghaft.
Laissez vivre les arbres morts. Lasst die toten Bäume leben.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de