7.-10.5.2017 – „Bettelanruf“?
7.5.2017
Hab sie schon gefunden, die Sorge: die süßen Eichhörnchen springen in der Thuja herum, in der die Amseln wohnen. Mein Hund hat oft zitternd in den Baum gestarrt, wenn es da gequiekt und geraschelt hat. Die vielen weißen Flecken unter dem Baum verraten die Vögel und ich habe sie auch hineinfliegen sehen. Dabei hat mir ein Gärtner gesagt, die heimischen Vögel würden nicht in unheimischen Bäumen nisten. Ganz falsch. Jetzt erinnere ich mich, wie die Amseln gekreischt haben. Sie hatten keine Chance, die Eichhörnchen aber ihre Gelegenheit, und – so der Nachbar -: wo Eichhörnchen sind, gibt es keine Vögel. Außer den Staren?
In der Thuja ist es wieder still.
8.5.2017
Die Woche beginnt schon wieder mit WU, ich halte mein Versprechen. Was soll Idrissa machen ohne seine Tiere? Ich mag es mir gar nicht vorstellen. Mit den Ziegen konnte die Familie leben.
Ich werde kein Meckern hören, wenn ich mit Idrissa telefoniere. Er wird wieder sagen, wie heiß es in Mali ist.
Und hier – esregnetohneUnterlassesregnetimmerzudieSchmetterlingewerdennassdieBlümchengehenzu. Und wenns genug geregnet hat, dann hört es wieder auf.
Was für eine Erscheinung: der neue französische Präsident tritt mit Beethoven auf, Freude schöner Götterfunken. Keine Marseillaise. Ich habe leichte Gänsehaut. Da passiert etwas Neues. Es ist ein erstes Mal. Europa first?
Wo Frankreich für meinen Vater noch der Erbfeind war. Dabei mochte er die Franzosen, die bei ihm arbeiten mussten, machte keinen Unterschied, auch wenn es gefährlich war, mit ihnen an einem Tisch zu sitzen in diesem Krieg.
Der sollte an einem 8. Mai sein Ende finden.
9.5.2017
Ich kann’s nicht lassen – hab ja nichts im Kopf als den bevorstehenden Anruf bei Idrissa – und erzähle auf der Rundtour mit unseren Hunden von Idrissas gestohlenen Eseln und Ziegen. „Wenn des net mal wieder a Bettelanruf is!“ Ungesagt, aber mitgedacht: und du bist so blöd und glaubst es.
Ich möchte mich schützend vor meinen Idrissa werfen und erzähle, erzähle, erzähle wie es war mit ihm und seiner Familie. Ich glaube nicht, dass es etwas nützt.
Ich kann es aber nicht lassen und bringe gleich noch eine Geschichte, ganz frisch von gestern Abend: die Krankheit, die Mamadous Sohn nicht schlafen lässt ohne Medikamente, ist Asthma. Deshalb muss der Junge immer im Haus bleiben, kann nicht in die Schule gehen oder draußen spielen, denn die Luft in Timbuktu ist voller Sandstaub. La poussiere. Die Zeit des Harmattan, wo man tagelang keine Sonne und keinen Mond zu sehen bekommt, müsste doch vorbei sein. Aber es ist schlimmer geworden, weil es immer weniger Regen gibt, und zur Zeit sowieso die große Hitze angefangen hat. Ich hoffe, dass danach Regen kommt und nicht so maßlos viel auf einmal, dass er wieder den Lehmhäusern den Boden unter den Füßen wegzieht.
Als ich Idrissa anrufe und – das muss sein – frage: wie geht’s? Sagt er fröhlich: très bien – sehr gut! Was? Ich frage zurück: très bien??? – Oui! Personne est mouri.
Habs nicht verstanden, denke ich, frage nochmal, sage, was ich gehört habe … mouri? – Oui! Personne est mouri, c‘est bon! Pause. Ach so. Keiner ist tot.
Dann frage ich nach den Ziegen. Ziegen? Das ist vorbei, sagt er, kann sich keine kaufen.
Jetzt – endlich – verrate ich meine Überraschung: ich hab dir 100 € geschickt. Das versteht jetzt Idrissa erst aufs zweite Mal. Dann ein Juchzer. Oh, das ist gut! Ich frage, wieviele Ziegen er dafür bekommt. – Drei! Für 100 € kann er drei Ziegen kaufen. Ca recommence avec les chevres! – dann kann er wieder anfangen mit den Ziegen.
Ich freue mich so. Bettelanruf.
Davon dass Mamadou mich einmal wieder zu seiner Maman und zu seiner einzigen Hoffnung gemacht hat, habe ich nicht gesprochen. Wie ich das zurückweisen, abwehren will: nein, nein, nein! Das bin ich nicht, das kann ich nicht, das will ich nicht! Das ist zu viel, viel zu viel.
Und Mütter sterben.
Ich weiß noch, wie zur gleichen Zeit Mamadous Mutter und Idrissas Kamel gestorben sind. Das Begräbnis konnte Mamadou nicht bezahlen, und Idrissa das neue – lebensnotwendige – Kamel auch nicht. Wie lange ist das jetzt her?
Damals war ich auch schon in Erklärungsnot. Warum machst du das? Dann soll er halt kein großes Begräbnis veranstalten! Ich versuchte zu beschreiben, was ich erlebt hatte, als ich auf dem Dach bei Mamadou lebte und im Haus gegenüber ein Mann gestorben war. Wie viele festlich gekleidete Menschen drei Tage lang in das Haus des Toten kamen und den ganzen Tag lang davor sitzen blieben. Mittags wechselten sie in den Schatten der anderen Straßenseite. Diese Trauergäste mussten bewirtet werden, das ist selbstverständlich. Das kann einer, der in dieser Stadt weiterleben will, nicht auslassen, er würde mit seiner ganzen Familie von der ganzen Stadt geächtet.
Ich werde Mamadou für sein Vertrauen danken – schließlich sind Kinder ein Geschenk, so wie er es versteht.
Aber auch Mütter haben Grenzen.
Was ich hier und heute keinem erzählen kann, hole ich aus meinem Tagebuch von meinem zweiten Aufenthalt herauf (2004): Timbuktu. Schon allein dieses Wort schreiben zu wollen, bewegt mich. So laufe ich hier herum.
Es ist wie Liebe. Es ist Liebe.
ln ihren besten Zeiten hat sich Liebe für mich nicht besser angefühlt.
10.5.2017
Am Küchenfenster bläst ein Hauch von draußen Schleier aus meiner Kaffeetasse. Es ist die Zeit, wo die Blätter der Birke noch so fein sind, das die Sonne hereinscheint, sobald sie über den Wald gestiegen ist. Da sitze ich dann und schaue der Maus zu, wie sie gerade ein Blatt von dem Mohn abbeißt, den ich vorgestern umgepflanzt habe, und damit unter den Holzdielen verschwindet. Schneeglöckchen, Primeln und die feinen Sonnenblumen sind auch schon diesen Weg gegangen. Weil es hier keine Katzen mehr gibt. Der Hund schaut nur zu. Für mich wird es zu kalt am Fenster, wenn die Sonne weiterzieht.
Gestern bin ich ins Bett hinaus geflohen, als ich hörte, wie eine Sendung über das Sterben der Vögel angekündigt wurde. Da war es beinahe so hell wie am Tag, aber von einem ganz anderen Licht. Traumhaft. Und der Mond würde noch viele Stunden über mein Bett wandern, bevor er hinter dem Haus verschwand. Ich weiß ja jetzt nicht, wie lange es noch dauert, bis der Frühling verstummt ist, weil ich weggelaufen bin. Will ich es wissen? Klammere ich mich doch an den Trost, den mir die Stare geschenkt haben. Aber wo sind die Mauersegler? Dass man – wenn man nicht Ornithologe ist – das Verschwinden erst merkt, wenn es schon passiert ist. Vorbei. Und dann?
Hat man sich dann schon daran gewöhnt? Oder sage ich irgendwann, wenn die Quantität in Qualität umschlägt: jetzt reicht’s! Das mache ich nicht mehr mit?
Aber Noam Chomsky? Auch so ein Licht meiner frühen Jahre. Er wird 88 und hofft auf Widerstand gegen die
Abrissbirne. Wie macht der das, woher hat er diese Kraft? Requiem für den Amerikanischen Traum. Atomkrieg und Umweltkatastrophe.
Im Kalten Krieg fand ich darin Ruhe, dass ich dachte: diesen Krieg kann es nicht geben, weil der, der ihn lostritt, auch nicht überlebt. Mittlerweile haben uns Selbstmordattentäter beigebracht, dass das auch keine Sicherheit mehr ist.
Und den Klimawandel kann man verleugnen. Ist nicht, ist nicht, ist nicht. Soll helfen gegen Angst. Aber nicht gegen die Katastrophe.
Morgen werde ich Paul besuchen. Es gefällt ihm dort, wo er angekommen ist, um zu bleiben und zu gehen. Ich werde zuvor nochmal anrufen müssen, um zu hören, ob er die Kraft hat für meinen Besuch.
Heute geht wieder ein Mondmonat zu Ende.
Vollmond wird kurz vor Mitternacht sein. In Ouaga heißt er: Tchana.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de