4.-6.10.2017 – hinauf

4.10.2017

Es zieht mich hinauf. Es sind die Tage, um ins Gebirg zu fahren, Genau jetzt. Ich habe mich auf dem Breitenberg angemeldet. Und Vollmond wird sein, wie in den letzten Jahren immer. Ich freue mich über meine entschiedene Entschlossenheit. Selten ist mir ein Wunsch in seiner Zeit so klar gewesen. Ja! Ich will!
Gehe an den Rechner, um es ohnesinn zu sagen, wie ich mich freue.
Mail. Mamadou. Eine Rechnung über die Schulsachen für die beiden Jungen. Und es ist nichts mehr zu essen da. Er läuft durch Timbuktu und kann nicht nach Hause gehen, weil er ohne Geld nichts kaufen kann. Der Händler gibt ihm keinen Kredit mehr.
Es ist ein Absturz. Gerade noch habe ich mich gefreut. Und jetzt fühle ich mich so furchtbar unter Druck gesetzt, dass ich um mich schlagen möchte. Geht nicht. Einfach zahlen auch nicht. Rechnen, schätzen, was angemessen wäre. Ich möchte um Hilfe schreien und weiß, dass mir keiner helfen kann. Bin allein mit mir und dem Kampf, der mich zerreißt. Notgriff zum Telefon. Meine immer hilfsbereite Freundin: was er tun muss – arbeiten – und nicht tun darf: mich ausnutzen. Was machen die anderen, die keine Arbeit und keine Deutsche haben? Fliehen?
Wieder einer der Widersprüche, durch die sich diese verdammte Welt entwickeln soll. Ein Riss geht mitten durch mich. Eine Hälfte schreit: es muss anders werden, so geht das nicht! Ich werde verarscht. Die andere sieht den verzweifelten Mamadou durch Timbuktu laufen, wie ihm nichts anderes mehr einfällt als die Deutsche. Die gerade ihren Rucksack fürs Gebirge packen wollte. Ihr geht es gut. Wenn da nicht der Riss, der in der Welt ist, immer und überall wieder, jetzt mitten durch sie geht.
Das Überweisen bleibt hängen, muss wiederholt werden. Deutschland gibt es nicht bei WU. Eine Stunde hin und her. Telefon WU. Telefon Mamadou. 200 € sollen für Oktober sein.
Wie immer sagt Mamadou pas de problème.

Dann gehe ich hinaus. Der fast runde Mond gibt viel Licht und viel Schatten. Ich rolle mich ins Bett, denke: ich werde nicht schlafen können. Diese Nacht kann mir keine Ruhe geben. Wie soll ich da morgen…
Plötzlich ist da ein Satz.
Der Widerspruch kann nicht gelöst, nur benannt werden.
Und ausgehalten.
Es ist ein alter Satz aus den Zeiten mit Christa Wolf. Kassandra.

Aushalten. Nicht abwehren, nicht verleugnen, aushalten. Und nachdenken.
Komisch: Dieser Satz macht mich ruhig. Ich habe gut geschlafen und bin unzerrissen – nicht heil, nein, das wirklich nicht, aber einverstanden mit mir.

5.10.2017

Und jetzt bin ich oben. Ganz oben. Ganz ganz oben.
Dass es das gibt.

Die Hochalphütte am Breitenberg. Mein Hund und ich sind ganz allein unter dem Mond dort, wo wir als Familie überm Schnee gesessen sind. Im Fasching schon morgens in der Sonne – wie heute – zum Frühstücken draußen. Dann wieder auf die Skier und fliegen, bis der Lift stillsteht. Nach dem Abendessen spielen. Watte pusten. Und lachen, lachen, lachen. In der Nacht rutschen die Kinder jubelnd auf Plastiktüten den Berg hinunter. Wir vier in einem kleinen Zimmer. Meine Kleine klettert in ihr Bett hinauf und schreit „Wo ist mein Nougatedelmarzipan?“ Das müssen die Weihnachtsferien gewesen sein. Es war das Glück einer Insel. Glücklicher war ich mit meiner Familie nie.

Einmal wurden wir eingeschneit. Und dann hörten wir, dass eine Gruppe nicht mehr heraufgekommen ist, die gegen Abend unten losgegangen ist. Einer hat es nicht überlebt.
Sylt. Da machte uns ein Haufen Kleider Angst, die keiner angezogen hat. Nicht am Abend und nicht am nächsten Morgen.

6.10.2017

Dass ich auch im Sommer oder Herbst einen Berg hinaufsteigen konnte, habe ich erst nach der Familie entdeckt. Ohne Mann und Kinder. Meine Eltern haben die Berge nicht gekannt.
Mit der Studienstiftung zum Kafka-Seminar in Alpbach sollte ein Berg bestiegen werden. 800 Meter hinauf. Ich wollte nicht mit, sagte: ich habe das noch nie gemacht und jetzt bin ich dafür zu alt. Ich kann mit euch nicht mithalten. Da waren doch alle mindestens zehn Jahre jünger als ich. Aber gerade deshalb konnten sie es nicht zulassen, dass ich zurückblieb. Ich musste mit. Und habe es geschafft! 800 Meter hinauf! Ich weiß nichts, was mich stolzer gemacht hätte.
Das wollte wiederholt werden. Glücksgefühle waren garantiert. Dafür habe ich mir dann im Wallis im letzten Jahr des letzten Jahrhunderts sehr gute und teure Schuhe gekauft. MEINDL heißen sie, und heute habe ich sie wieder angezogen. Da kommt dann immer die Gedenkminute. Im Herbst nach dem Kauf wurde mein Krebs gefunden, und ich dachte: sowas Blödes. Habe ich mir doch gerade diese teuren Schuhe gekauft.
Und heute gehen wir noch immer miteinander die Berge hinauf.

Auch wenn es so bläst und stürmt wie heute, dass ich mich gegen den Wind lehnen muss wie auf Sylt bei Windstärke 7, Böen bis 9. Es reißt mir fast die Stöcke aus den Händen. Plastikstühle fallen der Reihe nach um, Sonnenliegen fangen an zu fliegen, selbst große Biergläser muss man festhalten. Yalla bleibt unter dem Stuhl, auf dem ich sitze.
Da wird die Kabinenbahn nicht fahren. Noch ein bisschen mehr Insel. Es kommen nur die Sportlichen herauf, nicht solche wie ich.

Ich will noch einmal ganz hinauf. Das Hinaufgehen war heute soviel leichter als gestern. Und es hat mich wieder einmal glücklich gemacht. Danke.
Der Himmel ist offen. Dabei dieser Sturm. Der Hund legt sich in meinen Windschatten. Den habe ich an einer Holzhütte gefunden. Oben, ganz oben. Im Osten die Zugspitze – ich nehme mal den höchsten Gipfel dafür, die Richtung müsste stimmen, und im Westen der unverkennbare Ifen, mein Winterberg. Dort wo die Sonne jetzt aufsteigt, wird heute Abend der Vollmond heraufkommen. Vielleicht sehe ich ihn noch.

Zwischengelagert auf Papier mache ich den letzten Eintrag von ohnesinn 9.
Für meine Tage, für mein Leben. Was mache ich mit Freunden, die davon nichts wissen wollen?
Wird ohnesinn die Klinge, über die sie springen müssen? Wer davon nichts wissen will, der will auch von mir nichts wissen. Ich bin ohnesinn geworden.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de