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Walter Benjamin

Das Leben eines Unvollendeten

Von Lorenz Jäger


Alexandra Richter schrieb uns am 01.01.2018
Thema: Lorenz Jäger: Walter Benjamin

Brauner Schnee von gestern
Wider die neueste Walter-Benjamin-Biographie

„Porträt eines jüdischen Bolschewisten“ wäre sicher der zutreffendere und die Katze gleich aus dem Sack lassende Untertitel für dieses dem „Leben eines Unvollendeten“ gewidmete Buch gewesen. Neues biographisches Material wird nicht vorgelegt. Stattdessen zeichnet Lorenz Jäger Walter Benjamins Denken entlang der beiden als Schimpfwörter und nicht als theologisch-politische Kategorien gefassten Bezeichnungen nach. Einerseits beschäftigt den Autor die als Rätsel und Geheimnis verpackte Frage, was denn „das Jüdische“ sei, mit der Benjamins intellektuelle Leistung von der Geschichte der deutschen Philosophie losgekoppelt und als kabbalistische Spintisiererei abgetan werden soll. Zugleich warnt Jäger vor der angeblich unerkannt in Benjamins Schriften schlummernden Gefahr eines Aufrufs zu Klassenkampf und Weltrevolution. Der Bogen spannt sich so von einer perfiden Zu- und Festschreibung jüdischer Identität aufgrund von Herkunft und Physiognomie (der Beruf des Vaters nicht weniger als Benjamins Gesichtszüge und Körperhaltung) zu der absolut haarsträubenden Hitlerschen Gleichsetzung von Juden, dekadenten Literaten, Deserteuren, Vaterlandsverrätern und Kommunisten. Dass solche Behauptungen als Argumente in Deutschland im Jahre 2017 öffentlich ins Feld geführt werden können, ohne einen größeren Skandal zu erregen – Micha Brumliks Stellungnahme in der taz und eine Besprechung von Harald Loch in der Jüdischen Allgemeinen waren seltene kritische Echos –, mutet erst einmal gespenstisch an.
Es beginnt mit Benjamins allererstem Text, einem Märchen, aus dem Jäger nur ein Motiv herausliest: den Kaufmann, die Hauptfigur der Erzählung, ein zweiter Ritter Blaubart, der als die jüdische Vatergestalt identifiziert wird. Dessen Haus, das einzige, das nicht unter dem Schutz eines Heiligen steht, wie auch dessen internationale Tätigkeit, kurz das "Anderssein" des Kaufmanns, das die spannungsgeladene Atmosphäre im Text erzeugt, sind für Jäger Ausdruck des jüdischen Unangepasstseins, der nicht gelungenen und deswegen unheimlichen Assimilation. Seine Interpretation - "Abstrakt und monumental wird ein jüdischer Händler skizziert" (S. 12) und die Gleichsetzung von verbotenem Zimmer (dem beim Händler wohnenden Mädchen wird der Zugang zu dem oberen Zimmer ausdrücklich untersagt) und angeblichem Tabu von Benjamins jüdischer Herkunft (S. 13) - ist nur das erste Beispiel eines immer wiederkehrenden Schemas dieser radikal voreingenommenen Lektüre. Dazu gehören auch Belege durch historische Standardwerke für antisemitischen Stereotypen. Sie sollen z.B. dem „internationalen Prinzip des Jüdischen“ einen wissenschaftlichen Anstrich geben: „In einer Umwelt, die durch ihr Alter ausgezeichnet ist und in traditionellen Bahnen ihren Handel betreibt, vertritt dieser Kaufmann ein anderes Prinzip, das internationale, das des Fernhandels im großen Stil, durch den exotische Waren ins Land kommen. Damit wird das Jüdische angedeutet“ (S. 12). Die Passage verweist in der Fußnote auf das Handbuch der europäischen Geschichte. Noch problematischer ist das Zitieren kritischer jüdischer Stimmen, die judenfeindlich umgemünzt werden. So soll zum Beispiel eine inoffizielle „Berufsstatistik“ von Benjamins Freund, dem Historiker des Judentums Gershom Scholem, einen Satz wie „der Kaufmannsberuf aber war zu dieser Zeit für deutsche Juden typisch“ (S. 14) legitimieren. An anderer Stelle fragt sich Lorenz Jäger, warum die Benjamins Weihnachten feiern, „obwohl Christi Geburt an sich für Juden kein Fest sein kann.“ (S. 18). Der Autor lässt durchblicken, dass Juden nicht wirklich Christen und daher auch nicht Deutsche sind. Ihre Anpassung an christliche Bräuche und deutsche Kultur ist vorgetäuscht und geheuchelt.
Perfide ist auch die Art und Weise, wie Stellen aus Werk und Zeugnissen zusammengestellt werden. Kein missliebiges Urteil von Freunden oder Bekannten wird ausgelassen: Benjamin ist ein Schuft, der seine Freunde verrät (S. 40), ein Simulationskomödiant, der sich vorm Kriegsdienst drückt (S. 45), ein Vaterlandsverräter (S. 86), ein Jude mit Adlernase, in dessen Gesicht die List des Weisen zu lesen war (S. 47), der Angehörige des „Pariavolkes“ (S. 48), der mit der Hure solidarische Literat (S. 32). Der dahinter stehende ideelle Gewährsmann wird in der dazugehörigen Fußnote genannt: „Für Hitler waren  und  meist synonym. Die russische Revolution habe  gesichert“ (S. 346). Es ist kaum zu glauben: Hier wird Mein Kampf in der Ausgabe von 1943 zitiert und als Argument herangezogen.
Durch dieses Prisma werden nun die verschiedenen Stationen von Benjamins Lebensweg „neu“ beleuchtet: Tatsächlich (und zum Glück) sind der Forschung die so aufgezeigten „Parallelen“ bisher entgangen, wie zum Beispiel, dass es seit dem Vormärz „Jüdische Kritiker der deutschen Literatur“ gab (S. 91). An einer solchen Feststellung ist erst einmal nichts auszusetzen. Nur ist der von Jäger daraus gezogene Schluss paranoid: Benjamin mache in seiner Dissertation die (jüdische) Kritik stark, um die (deutsche) Dichtung anzugreifen. In dieser „Selbstermächtigung des Kritikers und Prosaisten gegenüber dem Dichter“ (S. 92) erkennt der Biograf eine verborgene Strategie, ein jüdisches Komplott. Auch die grundlegende Idee der Frühromantiker, die Benjamin in seiner Promotion herausarbeitete, dass nämlich die Prosa „die Idee der Poesie“ sei, steht bei Jäger für die (politische) Intention, die deutsche Dichtung in jüdisches Literatentum umzuschreiben. Die Akzentverschiebung ist klar erkennbar: nicht Deutsche waren judenfeindlich, sondern die Juden sind anti-deutsch. In diesem Sinne ist es Jäger auch ein Bedürfnis, die Diskussion um die Ablehnung von Benjamins Habilitation, die seiner universitären Karriere ein Ende setzte, erneut aufzurollen und die damaligen „deutschen“ Professoren in Schutz zu nehmen. „Schulz hatte von 1914 bis 1918 gekämpft und war dafür mit dem Ritterkreuz 1. Klasse ausgezeichnet worden.“ (S. 152) Und Cornelius hatte wohl nicht ganz unrecht, so läßt Jäger anklingen, wenn für ihn der so unverständlich schreibende Benjamin „den Studierenden kein Führer“ (S. 153) sein konnte.
Die Freundschaft zwischen Benjamin und Rang (über den Jäger promoviert hat) wird als exemplarisch für das deutsch-jüdische Verhältnis hingestellt, auch hier wieder mit einer Verschiebung, die man erst beim zweiten Lesen wahrnimmt, nämlich als exemplarisch für ihre Unvereinbarkeit. So habe für Benjamin die Hauptschwierigkeit darin bestanden, „als Jude zu deutschen Problemen“ (S. 124) Stellung zu nehmen. Denn, so Jäger an anderer Stelle: „Der europäische Krieg konnte nicht der Krieg der Juden sein“ (S. 56). Dass Benjamin dem Ersten Weltkrieg aus Überzeugung fernblieb, wird als Feigheit, seine dezidiert pazifistische Position nach dem Selbstmord seines Dichterfreundes Heinle als fehlender Patriotismus ausgelegt: „Der Erste Weltkrieg fand währenddessen ohne Benjamin statt“ (S. 44). Und alles nur, um dann die Frage zu stellen, die sich in der Tat und zu Recht noch niemand, weder in Deutschland noch anderswo, gestellt hat: „In welchem Sinne war Benjamin deutsch, vom Bildungsgang und von der Staatsangehörigkeit einmal abgesehen?“ (S. 103)
Nach und nach und in feinsten bis gröbsten Dosierungen werden dem Leser Klischees und Gemeinplätze des antisemitischen Propagandamaterials verabreicht. Dabei stützen sich Zitate und Quellen fast ausschließlich auf Benjamins Schriften sowie auf die von Erdmut Wizisla unter dem Titel Begegnungen mit Benjamin zusammengestellte Auswahl persönlicher Zeugnisse. Dies wirft ein weiteres bezeichnendes Licht auf die Absicht des Verfassers. Indem so gut wie keine Forschungsliteratur zitiert und die weltweite, Disziplinen übergreifende Diskussion, die Benjamins Schriften hervorgerufen haben, totgeschwiegen wird, entsteht der Eindruck eines um sich selbst kreisenden, wirkungslosen Werkes, dem positive Originalität abgesprochen wird. Benjamin habe lediglich deutsche philosophische Begriffe jüdisch „umgeprägt“ (S. 53) oder klassische Texte der deutschen Literatur wie Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften „mit theologischen Kategorien überschrieben“ (S. 115). Wo Benjamin in einem Nachtrag zu seiner Arbeit Ursprung des deutschen Trauerspiels eine Affinität, das heißt Nähe und Übereinstimmung, mit Goethe erkennt und festhält, sieht Jäger ein Umfärben am Werk, ein weiteres Moment dieser unendlichen Geschichte der misslungenen Aneignung und in fine unmöglichen Assimilation an deutsche Kultur. Diese Stoßlinie führt direkt in die Ecke der Geschichte, in die Jäger Benjamin gerne stellen würde, in der er aber schon zu seinem Lebzeiten nie stand und in die ihn auch keine noch so „belastende“ Biographie zu drängen vermag. Ging es doch Benjamin nicht um spezifisch „Jüdisches“, sondern um Theologie und um die in ihr enthaltenen und tradierten Versprechen. Gerade im Passagenwerk, aber auch in seinen literaturkritischen Schriften kommt der Theologie (die ja bekanntlich klein und hässlich ist und sich nicht mehr zeigen darf) die Funktion einer nicht explizit genannten Methode des Lesens der Welt zu: Sie soll aufdecken, wo begrabene Hoffnungen liegen.
Als zweiter Reizpunkt fungiert bei Jäger der linke, der rote Benjamin. Einen ersten Hinweis auf die brennende Gefahr seiner Schriften sieht Jäger in dem wie der biblische Dornbusch glühenden roten Haarschopf des Philosophen (S. 22), in seinem Pseudonym „Ardor“ (S. 22), aber auch in seinem Vornamen Walter, der auf die gleiche Wurzel wie „Gewalt“ zurückgehe (S. 18). Das Geburtsjahr 1892 („Denn was hieß es, 1892 geboren worden zu sein?“ S. 19) wird bei Jäger zum Startschuss eines politisches Programms, nämlich der Entscheidung zwischen rechts- oder linksradikal. Laut der von Jäger zusammengestellten Liste kamen außer Benjamin auch Dollfuss, Franco und Tito in jenem Jahr zur Welt, sowie Oswald Pohl, einer der Organisatoren des Holocausts, und der SA-Führer Gregor Strasser (S. 20). Dass sich Benjamin für die linke Seite der Trennlinie entschied, wird ihm als proton pseudos, als Urfehler, angelastet: „Benjamin hatte die späteren Jahre des Krieges [...] im Ausland verbracht, während die Schriftsteller, die sich in der Weimarer Republik nach rechts wandten [...] als Soldaten gekämpft hatten. Das war eine lebensgeschichtlich begründete, erfahrene Trennlinie, die durch Argumente und noch so subtile analytische Kraft nicht mehr zu überbrücken war.“ (S. 89) Auch die Dissertation gerät in dieses ideologische Schussfeuer. Sie erscheint als Position im Streit zwischen linker, antibürgerlicher Avantgarde und rechter, den Nationalsozialismus vorbereitender Spätromantik. Die Ästhetik wird so für Jäger zum „Kriegsschauplatz zwischen faschistischer und linker Politik“ (S. 100). Nicht weniger als die religiöse erfolgt auch die politische Zuschreibung bei Jäger aufgrund von willkürlich konstruierten Analogien und Ähnlichkeiten. So soll die Widmung der Einbahnstraße an Asja Lacis, die laut Benjamin diese Straße im Autor „als Ingenieur“ durchgebrochen habe, ein Bekenntnis zum Stalinismus sein, da Stalin die Schriftsteller als „Ingenieure der Seele“ (S. 162) bezeichnet hat.
Quer durch Benjamins Leben spürt Jäger Spuren von Radikalismus und Extremismus nach, dabei Thomas Manns Porträt des frankophilen Zivilisationsliteraten folgend: „Er hat des Jakobiners Hang zur Anarchie und zum Despotismus, zur Sentimentalität und zum Doktrinarismus, Terrorismus, Fanatismus und zum radikalen Dogma, zur Guillotine. Er hat seine schreckliche Naivität. Er ist, wie jener, ein Humanitätsprinzipienreiter mit der Vorliebe fürs Blutgerüst“ (S. 37). Sämtliche intellektuelle Stationen Benjamins erscheinen versehen mit Warnlichtern vor extremistischen Tendenzen: Der Jugendbewegung ging es um die „Abkehr vom Bürgertum“ (S. 22), die Forderung des Tages zu Beginn des ersten Weltkriegs war „Radikalismus“ (S. 35), den Dadaisten ging es um eine Weltrevolution gegen Deutschland (S. 82), die Avantgarde war eine Form von „Fundamentalismus“ (S. 89). Benjamins „Denken in Extremen“, wie er es in einem Brief an Gretel Adorno einmal beschrieb, wird bei Jäger zu einem „extremen Denken“. Generell wird das Brutale, Unmenschliche, Radikale hervorgehoben und ausgiebigst zitiert, z.B. wenn Benjamin in einem Brief von der „Kampfgesinnung“ (S. 51) der linken Politik spricht. Die jüdischen Intellektuellen, mit denen Benjamin in regem und engem Austausch stand, erscheinen als verkappte Kriegshetzer und Weltumstürzler. Ernst Bloch war ein „erschreckend mächtiger Jude [...] eine brutale Naturkraft, die sich nicht ohne Eitelkeit das Ziel gesetzt hat, die Welt umzudenken“ (S. 85), Goldbergs Buch Die Wirklichkeit der Hebräer eine „Kriegslehre“ (S. 59), Gutkinds Theorie des jüdischen Rituals eine „Geheimwissenschaft“ (S. 62). Wenn Scholem witzig und geistreich von den drei „Sekten“ (S. 65) spricht, die das deutsche Judentum hervorgebracht habe – gemeint sind die Warburg-Schule, das Institut für Sozialforschung und der Kreis um Oskar Goldberg – wird diese Bezeichnung von Jäger als faktische Kategorie zur Darstellung des jüdischen Umfeldes herangezogen. Zahlreiche Studien aus dem Umkreis der Benjamin-Forschung (z.B. Gabriele Guerra, Judentum zwischen Anarchie und Theokratie oder Michael Löwy, Juifs hétérodoxes) haben längst die Komplexität und das breite, bis zur Heterodoxie reichende Spektrum jüdischer Intellektualität aufgezeigt, die sich nur schematisch auf einen Nenner bringen lässt.
Dabei wird immer wieder auf die Ähnlichkeit von links- und rechtsradikal, von konservativ-nationalistisch und jüdisch-revolutionär verwiesen, als ließen sich dadurch historische Verfehlungen aufwiegen oder gar wiedergutmachen. So findet Jäger, dass sich im Vergleich zum Entwurf einer Kathedrale des mit Benjamin befreundeten Dadaisten Johannes Baader Speers „Germania“ „regelrecht mickrig“ (S. 82) ausnehme. Die „genealogische Kette“ (S. 53) der Juden, der „Zusammenhang der Geschlechter“ (S. 54), die Überzeugung, in einer „Blutreihe“ zu stehen (S. 54, Scholem-Zitat), ist für Jäger eine „Akzentuierung ethnisch- genealogischer Gedankengänge“ (S. 55), also eine andere Form von Rassismus, die „auch im Judentum erst nach 1945 in den Hintergrund trat“ (S. 55). Und im Hinblick auf die stalinistischen Säuberungen heißt es im Ton der Rechtfertigung: „Nicht nur das nationalsozialistische Deutschland fuhr einen harten Kurs.“ (S. 298). Diese nicht nur historisch höchst zweifelhaften Parallelen sollen dem Leser wohl suggerieren, dass die historische Schuld rechts und links gleichermaßen verteilt liegt. Jägers Präferenz geht dabei aus dem Aufbau seiner Argumentation implizit hervor. Dies zeigt bspw. die Verformung von Horkheimers These, der Kapitalismus habe den Antisemitismus produziert. Durch Jägers Gleichsetzung von Kapitalisten und jüdischen Händlern liest sich diese These plötzlich so, als seien die Juden selbst an ihrer Vernichtung schuld: „Judenfeindschaft ist demnach die bloße Überbau-Spiegelung der zunehmenden Steuerungstendenzen in der Wirtschaft.“ (S. 322) Nicht anders verfährt Jäger mit dem Satz „kein Ruhm dem Sieger, kein Mitleid den Besiegten“, der sich unter dem Titel „Problem der Tradition II“ in einem Nachlasskonvolut aus dem Umkreis der Thesen befindet. Geht es Benjamin darum, dass die Besiegten nichts vom Mitleid haben, da sich dadurch ihre Situation nicht grundlegend verändert – der Satz drückt für ihn „die kongenitale Schwäche des deutschen Bürgertums“ (GS I:3, S. 1237) aus –, gehört für Jäger dieser Satz „zur Gattung des Revolutionskitsches [...] Seine inhumane Botschaft schreit, wie man fast sagen möchte, zum Himmel“ (S. 329).
Benjamins „Linkstotalitarismus“, so Jägers These, war schon in der frühen Metaphysik angelegt, in der Sprache der Dinge, deren korrespondierende Seite der säkulare, d.h. marxistisch Messianismus sei. „Wir werden sehen, wie aus der Veränderung der  proletarischer Klassenkampf und kommunistische Partei werden“ (S. 77), prophezeit der Autor. Denn der Klassenkampf, so Jäger, war „für Benjamin die Hauptsache“ (S. 38). „Revolution, Messianismus und Kunstavantgarde [bilden] eine Gedankenfolge“ (S. 89). Auch die Sprache trete bei Benjamin in den Dienst des Klassenkampfes (während Benjamin vom Kampf gegen den Faschismus und im Kunstwerkaufsatz von nicht faschistisch verwertbaren Begriffen spricht!), dieser „gnadenlosen fixen Idee“ (S. 308). Dieser bilde auch die Grundlage der achtzehn Thesen über den Begriff der Geschichte, Benjamins letztem Text, zu denen die achtzehn Kapitel von Jägers Buch gewissermaßen Gegenthesen aufstellen: „Der eine Hauptbegriff der Thesen ist der Klassenkampf. Der andere ist Erlösung.“ (S. 325). Bei diesem letzten Text nun erreicht die Fehlleistung von Jägers Lektüre ihren Höhepunkt. Benjamin mache sich in den Thesen „die allerhärtesten bolschewistischen Maximen“ zu eigen (S. 327). Sein Bild vom Schachautomaten entspreche „sehr genau einer Verschwörungstheorie, wie sie die Nationalsozialisten für den  behaupteten“. Die dazu gehörige Belegstelle aus Mein Kampf mit „Hitlers zentrale[r] Formulierung“ (S. 377) folgt stante pede: „siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen.“ (ebenda) So rechtfertigt die planetarische Gefahr von Benjamins Thesen a posteriori noch Hitlers Exterminationspolitik!
Wir haben es also mit einer durch und durch „politischen Biographie“ zu tun, wie Jäger seine vorhergehende Arbeit zu Adorno gattungsgeschichtlich definierte. Auch dort gab es Assoziationsreihen in Bezug auf das Geburtsjahr. Auch dort ging es um das Aufzeigen eines Gescheiterten und Unvollendeten, eines wirkungslosen, jüdisch-marxistischen Intellektuellen. Nun ist es grundsätzlich nicht verwerflich und in andern Ländern wie Frankreich sogar üblich, einen Autor auch im Hinblick auf seine politische Wirkung und Implikation zu befragen. Doch was Jäger hier vorlegt, ist ideengeschichtliche Fälschung. Ging es Benjamin doch in seinen politischen Schriften um das Politische als philosophisches Problem. So zielte Benjamins Projekt einer Schrift zur Politik mit dem Titel Der wahre Politiker auf eine philosophische Auseinandersetzung gerade auch mit theologischen Heilsversprechen. Im selben Sinn geht es in den Thesen um den „Begriff der Geschichte“, um das „Bild der Vergangenheit“, das von den politischen Parteien unterschiedlich gefasst und instrumentalisiert wird. Und auch der Text Zur Kritik der Gewalt ist weder eine pazifistische Kampfschrift noch eine Rechtfertigung linker Aufstände (als die sie in den 1970er Jahren rezipiert wurde), sondern eine Infragestellung und Grenzziehung zwischen dem eigentlichen politischen Bereich von Recht und Gewalt und dem theologischen der Gerechtigkeit. Die Chance, mit Benjamin und von seinem Denken ausgehend eine Kritik der linken Politik zu konstruieren, wurde hier vergeben.
Politik lässt sich weder mit philosophischen noch mit biographischen Mitteln (wie hier) fortführen. Dass das Leben eines Menschen mit seinem Werk nicht identisch ist hat, hatte Benjamin in seinem Wahlverwandtschaften-Aufsatz gegen Gundolf angemahnt. Ebenso fragwürdig ist eine Übersetzung von Biographie in Ideengeschichte und Politik. Brods Kafka- Biographie warf Benjamin Voreingenommenheit und fehlenden Erkenntniswert vor. Auch Jägers Buch muss sich den Vorwurf der Voreingenommenheit gefallen lassen, sagt es doch mehr über seinen Autor als seinen Gegenstand aus. Der Erkenntniswert allerdings scheint indirekt erhalten zu sein, zeigt sich hier doch eine aktuelle Tendenz deutschen Denkens. Diese wurde in der Badischen Zeitung vom Historiker Jörg Später zutreffend als „die Wunde Benjamin“ bezeichnet. Warum eine Verletzung oder zumindest Kränkung des neuen rechten Denkens vorliegt, woher diese rührt und warum in diesem Buch die Tarnkappe wieder neben dem Stahlhelm hängt, sind im Kontext von Leitkulturdebatte und Antisemitismus-Dokumentation Fragen von akuter Aktualität.


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