Leserbriefe zur Rezension

Auf der Suche nach der Vergangenheit

Bernice Morgan zeichnet Familienstammbäume

Von Doris Betzl


Burkhard Gutleben schrieb uns am 22.03.2007
Thema: Doris Betzl: Auf der Suche nach der Vergangenheit

Man mag den Anlass meines Leserbriefes als verjährt betrachten; da ich den Unmut über die Besprechung von Frau Betzl allerdings erst jetzt - im Frühjahr 2007 - empfinde, fasse ich ihn nun dennoch in Worte, zumal ich unterstelle, dass ich nicht der letzte sein werde, der durch eine Internet-Recherche über diese Rezension stolpert.
Die Urteile von Kritikern über Werke gleich welcher Gattung haben immer auch eine subjektive Komponente - anders geht es wohl kaum. Wenn sich eine recht subjektive Wertung allerdings paart mit fehlenden Informationen oder Fehlinformationen, kann es schnell zu einem Fehlurteil kommen, das weder dem Werk noch seiner Autorin und ihren Intentionen gerecht wird.
„Bernice Morgan zeichnet Familienstammbäume“ – Doris Betzl hat durchaus erkannt, dass im Zentrum des Romans eine sich über etwa 150 Jahre erstreckende Familiengeschichte steht. Was mich allerdings verwundert ist der Umstand, dass sie keinerlei Hinweis auf das andere Buch der Autorin gibt, in dem der alte Teil dieser Familienchronik noch wesentlich ausführlicher entfaltet wird: „Die Farben des Meeres“ (Originaltitel: 'Random Passage' - Erstveröffentlichung 1992) erschien in Deutschland 1998 etwa zeitgleich mit „Am Ende des Meeres“ (Originaltitel: 'Waiting for Time' - Erstveröffentlichung 1994) und steht auch in einem engen Produktionszusammenhang mit diesem anderen Roman – beide zusammen ergeben eine groß angelegte Familiensaga mit einem deutlichen Schwerpunkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ist der Rezensentin dieser Zusammenhang unbekannt gewesen oder hält sie ihn nicht für erwähnenswert? Beides wäre schwer zu verzeihen. Sätze wie „Es ist irritierend, hier immer wieder auf Namen von Figuren zu stoßen, die weder für die Handlung noch für die Protagonistin wichtig erscheinen…“ deuten für mich stark in die Richtung, dass der Rezensentin das zuerst veröffentlichte Buch und damit die andere Hälfte der Geschichte in der Tat unbekannt war.
Ebenso unbekannt scheint ihr der reale Gegenwartsbezug der Rahmengeschichte um Lavinia Andrews zu sein, mit der sie nach eigenem Bekunden wenig anfangen kann. Ich fürchte fast, dass sie gar nicht verstanden hat, um was es auf der Gegenwartsebene überhaupt geht. „Lavinias Projekt läuft nicht wie geplant…“ ist eine höchst nichtssagende Umschreibung für den Sachverhalt, dass die sich abzeichnenden Ergebnisse des meeresbiologischen Forschungsprojekts an der Küste Neufundlands einflussreichen Kreisen in Wirtschaft und Politik unerwünscht sind, so dass deren Veröffentlichung hintertrieben und die offizielle Darstellung geschönt wird. Der reale geschichtliche Hintergrund ist die Kabeljaukrise zu Beginn der 90er Jahre, als ein Fangverbot zigtausenden Menschen in den Außenhäfen Neufundlands die Existenzgrundlage zu entziehen drohte. Bernice Morgan bekennt sich in Interviews dazu, wie sehr sie diese Dinge während der Arbeit an diesem Roman umgetrieben haben und wie oft sie aufgrund aktueller Entwicklungen ihren Plot überarbeitet hat. Dass der Fischereiminister, den Lavinia Andrews im Rahmen einer Pressekonferenz ohne Erfolg mit ihren wahren Resultaten konfrontiert, ebenso Timothy Drew heißt wie der vom kleinen Dieb zum mächtigen Geschäftsmann avancierte einstige Partner ihrer Vorfahrin Mary Bundle 150 Jahre zuvor, ist kein Zufall – Bernice Morgan will damit andeuten, dass sich die Strukturen von Macht und Ohnmacht Kontinuitäten aufweisen und sich im Laufe der Zeit nicht wirklich verändert haben. Diese sozialkritische Dimension, die in der Kindheits- und Jugendgeschichte von Mary Bundle in krasser Weise zugespitzt wird, blendet Frau Betzl in ihrer Besprechung völlig aus – fast fürchte ich, dass sie diese Thematik überhaupt nicht in den Blick bekommen hat. Dass die Lebensumstände der Menschen auf dem Kap so entbehrungsreich sind, liegt eben nicht nur an der Natur („passend zum Ort des Geschehens – herb poetisch erzählt“) und ist nicht naturgegeben, sondern auch Resultat einer sozialen Ordnung, die alle Lasten den Schwachen aufbürdet. Das entbehrungsreiche Leben nahezu aller Akteure im historischen Teil bestimmt den Grundton der Erzählung – das mag die Rezensentin nicht so sehr und bevorzugt „anekdotisch-humorvolle Momente“. Sie liefert als einziges längeres Zitat aus dem Buch deshalb eine fast burleske Jagdszene, die für den Roman in der Tat ziemlich untypisch ist, aber wohl illustrieren soll, was Frau Betzl unter „Humor und Erzählfreude“ versteht, die sie sich wünscht. Nun gut, die Geschmäcker und Leseerwartungen sind verschieden. Ich würde sagen, dann hat sie in diesem Fall zum falschen Buch gegriffen. Aber warum muss sie es dann noch besprechen und anderen ein falsches Bild vermitteln? Schon auf der Ebene der reinen Fakten macht sie Fehler: Rachel, die die Erinnerungen der alten Mary Bundle zu Papier bringt, ist nicht deren Enkelin sondern die Urenkelin. Genauer lesen wäre hilfreich, dann wäre vielleicht auch der zwei Mal erhobene Vorwurf, dass die Erzählerin etwas „verschweige“ unterblieben: wer Ohren hat zu hören … kann durchaus mitbekommen, was Bernice Morgan zu sagen hat.
„War diese Rezension für Sie hilfreich?“ wird bei Amazon immer gefragt. In diesem Fall bleibt mir nur ein klares „Nein!“