An den Quellen des deutschen Rechtsradikalismus
200 Jahre nach dem Attentat des Theologiestudenten Carl Ludwig Sand auf den Schriftsteller August von Kotzebue stellt Harro Zimmermann Mann und Tat in einen größeren Zusammenhang
Von Dietmar Jacobsen
23. März 1819. In seiner Mannheimer Wohnung wird der Schriftsteller und politische Publizist August von Kotzebue kaltblütig erstochen. Sein Mörder: Carl Ludwig Sand, geboren 1795 in Wunsiedel, Theologiestudent und aktiver Burschenschafter, der den Plan, den Verfasser beliebter und vielgespielter Theaterstücke sowie u.a. einer auf dem Wartburgfest verbrannten Geschichte des deutschen Reiches von dessen Ursprunge bis zu dessen Untergange (1814/15) zu ermorden, schon über ein Jahr mit sich herumtrug.
Kotzebues offener Kritik an den deutschen Universitäten und der zunehmenden Radikalisierung von Burschenschaften und Turnerbünden, in denen er Keimzellen einer kommenden Revolution sah, wollte der Jenaer Student eine Tat entgegensetzen, die ein Zeichen setzen sollte für alle national-liberalen Kräfte, die sich nach Veränderungen sehnten. Ein Übriges tat der Ruf des erfolgreichen Autors, im Auftrag der russischen Krone, die er seit 1817 als Generalkonsul in Deutschland vertrat, seine Landsleute auszuspionieren.
Nach seinen Büchern über Friedrich Schlegel (Friedrich Schlegel oder Die Sehnsucht nach Deutschland, 2009) und Friedrich Gentz (Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik, 2012) ist der Literaturwissenschaftler und Publizist Harro Zimmermann der Epoche zwischen Französischer Revolution und post-bonapartistischer Restauration in seiner neuen Arbeit treu geblieben. Mit Carl Ludwig Sand (1795-1820) hat er sich dabei einer historischen Figur zugewandt, die schon ihre Zeitgenossen polarisierte, deren Urteile von Bewunderung bis Abscheu reichen.
„Sand scheint mir einer der größten Männer seines Jahrhunderts“, bringt der seit 1818 ebenfalls aktive Burschenschafter und spätere Jenaer Theologie-Professor Karl von Hase (1800-1890) eine weit verbreitete Meinung auf den Punkt, während für Heinrich Heine die Tat aus dem „beschränkten Teutomanismus“ der Burschenschafter erwachsen ist. Goethe – zunächst wie sein Herzog Carl August den liberalisierenden Ideen der „lieben Brauseköpfe[-]“ von der Jenaer Universität nicht abgeneigt –, wittert nach dem Attentat eine „Burschenverschwörung auf der Wartburg“ und verlangt nach der harten Hand des Staats: „Jetzt verschlimmern sich die Zustände bis zum Extrem, das Gouvernement muß doch zuletzt wieder eingreifen.“
Akribisch aus den Quellen gearbeitet, behandelt Zimmermann in 8 Kapiteln Sands Werdegang, verfolgt die Tat von der Planung über die Ausführung bis zum Prozess gegen den Attentäter und dessen öffentlicher Hinrichtung am 20. Mai 1820 in Mannheim und widmet sich dem Echo dieses Ereignisses in Zeit und Nachwelt. In einem umfangreichen Anhang kommt Sand mit Auszügen aus seinen Schriften – darunter der Aufruf zur Gründung einer Burschenschaft vom Oktober 1817 und der Abschiedsbrief an die Eltern und Geschwister in Wunsiedel vom Januar 1820 – selbst zu Wort.
Eine ausführliche Bibliographie schließt das Buch ab, die neben den wissenschaftlichen Einlassungen auf den Problemkomplex auch die literarischen Bearbeitungen des Kotzebue-Attentats – von den anonymen Reaktionen unmittelbar nach der Tat über zahlreiche epische, lyrische und dramatische Bearbeitungen durch mehr oder weniger bekannte Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts bis hin zum jüngst erschienenen Roman Die Karlsbadverschwörung (2017) des unter dem Pseudonym S. Coell schreibenden österreichischen Juristen und Politikers Norberth Nemeth – enthält.
Dass es sich bei Sands Tat mehr um die „individuell-pathologische Verarbeitungsform eines tatphilosophisch überhitzten Debattenklimas akademischer Provenienz“ gehandelt hat als um den Grund zu größerer Beunruhigung gebenden Ausdruck einer zahlenmäßig zu Buche schlagenden „Verschwörer-Subkultur“, steht für den Autor fest.
„Stilbildend“ für die Erscheinungsformen des Phänomens Terrorismus war der ungeheure Wellen schlagende kriminelle Akt dennoch. Gingen doch hier erstmalig in der neueren politischen Geschichte Deutschlands Unbehagen an den herrschenden Zuständen, religiös unterbautes Auserwähltheits- und Sendungsbewusstsein, eine romantisch fundierte Erlösungsutopie und die Projektion all dessen, was man als verhängnisvoll und falsch in seiner Zeit begriff, auf einen Einzelnen eine unheilvolle Verbindung ein.
Mit der Ermordung des Mannes, den Sand als „Erzknecht und […] Schutzschild dieser feilen Zeit […] Verderber und Verräter meines Volkes“ begriff, sollte nicht weniger als ein das deutsche Volk aufrüttelndes Zeichen gesetzt werden. „Auch ich hasse nichts mehr, als die Feigheit und Faulheit der Gesinnungen dieser Tage. Ein Zeichen muß ich Euch deß geben, muß mich erklären gegen diese Schlaffheit“, heißt es in dem programmatischen Text Todesstoß dem August von Kotzebue, den Sand über Monate hinweg ausgearbeitet hatte und eigentlich nach der Tat am Portal einer Mannheimer Kirche ganz in Nachfolge des Lutherschen Thesenanschlags zu Wittenberg hinterlassen wollte.
Nicht von ungefähr führt die 14-tägige Wanderung von Jena nach Mannheim, die Sand am 9. März 1819 in dem Bewusstsein antritt, am Ziel einen der meistgehassten Männer seiner Zeit und paradigmatischen Repräsentanten der restaurativen Ideologie nach den Befreiungskriegen zu töten, auch über Eisenach und Luthers einstige Zufluchts- und Wirkungsstätte auf der Wartburg, wo knapp eineinhalb Jahre vorher das von Sand mit vorbereitete Deutschlandtreffen der Burschenschaften mit der feierlichen Verbrennung unliebsamer Bücher zu Ende ging.
Luther, „der stille Bruder Martin“, wie ihn Sand in seinem Aufruf zur Gründung einer Burschenschaft vom Oktober 1817 ehrfurchtsvoll nennt, ist für den vom Pietismus seines Elternhauses – die „überkommene, in mancher Hinsicht hausbackene Moral- und Glaubensausstattung“, mit der ihn vor allem seine Mutter versorgte, ist für Zimmermann mitursächlich für seine spätere Entwicklung – durch und durch geprägten Theologie-Studenten Sand das historische Vorbild schlechthin. Von einer „Reformation der alten abgelebten Art“ schreibt er in seinem Abschiedsbrief An alle die Meinigen, wenn er von jenen Errungenschaften der letzten Jahre spricht, die er in seiner Gegenwart aufs Neue gefährdet sieht.
Dass die Tat des „Mörder[s] aus Vaterlandsliebe“ letzten Endes zum endgültigen Scheitern aller liberal-nationalen Bestrebungen in der Zeit nach den Befreiungskriegen, wie sie vor allem an den Universitäten einen starken Nährboden gefunden hatten, führte, ist eine These, der Zimmermann nicht zu folgen vermag. Zwar ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Sands Tat Wasser auf die Mühlen all jener Kräfte bedeutete, denen nach der endgültigen Niederlage Napoleons nicht daran gelegen war, dass das von Fremdherrschaft befreite Deutschland sich nun im Nachgang auch noch all jener spätabsolutistischen Strukturen entledigte, die ihm eiligst wieder übergestülpt werden sollten. Universitäten und Burschenschaften, Presse und Verlage unterlagen fortan noch strengerer Überwachung als bisher, die Karlsbader Beschlüsse sanktionierten im September 1819 einen Kontrollwahn, der jede freiheitliche Meinung unter den Generalverdacht des Aufrufs zur Revolution stellte, und die von Metternich initiierte Mainzer „Zentralkommission zur Untersuchung hochverräterischer Umtriebe“ leitete und koordinierte vom selben Jahr an die bundesweite Verfolgung jedweden kritischen Gedankenguts und seiner Verbreiter.
Und dennoch: Gerade der Fall Sand – „politisch so enervierend wie menschlich anregend“ – hatte das „Zeug zum mythenbildenden Identitätskonstrukt der imagined nation“, wie Zimmermann formuliert. Im letzten und längsten Kapitel seiner Arbeit verfolgt er unter dem von Puschkin geprägten Wort „Sein Geist irrt ohne Ruh durch seines Deutschlands Haine“ den Nationalkult um einen Täter, an dem sich die Geister zwar schieden, von dem und seiner Tat sie aber weder im 19., noch im 20. Jahrhundert ganz zu lassen vermochten.
Vielleicht geht der Autor ein wenig zu weit, wenn er selbst noch die trivialsten und ephemersten schriftstellerischen Annäherungen an das historische Geschehen einer ausführlichen inhaltlichen wie bedeutungsmäßigen Betrachtung unterzieht. Unterm Strich freilich vermag er damit auch zu zeigen, wie jede Zeit und Strömung sich die zu ihr passenden Züge am Leben jenes jungen, von seiner göttlichen Sendung überzeugten Mannes heraussuchte, der sich im Frühjahr 1819 aufmachte, um mit seiner Tat das Signal zu einer allgemeinen Erhebung zu geben und von dem – so Harro Zimmermann – „immer wieder etwas Unabgegoltenes und Schwärendes zurückbleiben [wird], eine Gespanntheit zwischen Abwehr, Huldigung und Irritation, ja ein Splitter im Fleisch des nationalen Gemüts- und Erinnerungskorpus.“
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