Zumutungen: Gehen wir davon aus.

von der Autorin Sandra Gugić.

Ich bin mir sicher, dass ich diesen Text bereits geschrieben habe, vor Wochen, Monaten, Jahren, ich bin mir sicher, dass andere vor mir diesen Text schon geschrieben haben. Und darüber hinaus. Das eigentlich schon längst alles gesagt und auch verstanden und zumindest in Veränderung befindlich sein sollte. Aber. 

Also. Wovon ich sprechen will, sind die Zumutungen: Von der Ordnung und Struktur und den täglichen Anforderungen der wirklichen Welt in der wir arbeiten, leben, schreiben. Im Gegensatz zur Vorstellung eines Schreiblebens unter den Voraussetzungen eines Idealzustands. Hier ist der Soll-Zustand. Da der Ist-Zustand. Hier das Leben, das Überleben, dort das Schreiben.

„Ich schreibe. Das ist alles, was ich tue.“ Das schreibt Mely Kiyak in „Frausein“. Vielzitierte Sätze, die absolut und schön klingen.

„Ich wollte keine Frau sein, die Kinder hat und schreibt. Keine, die eine Ehe führt und schreibt. Keine, die eine andere Tätigkeit ausübt und auch schreibt. Ich wollte nicht von allem etwas, sondern von dieser einen Sache alles. Wenn mich jemand fragt, was machst du, wollte ich antworten: Ich schreibe.
Es war keine bewusste Entscheidung. Es ergab sich. Als mir bewusst war, dass es darauf hinauslief, entschied ich, entweder ich mache nur das, oder ich mache es gar nicht.“

Ich lese diese Sätze, ich lege sie weg, ad acta, irgendwohin, aber Wochen später noch stoßen sie mir sauer auf. Warum? Wovon gehe ich aus, wenn ich diese Sätze in den Raum stelle? Sie zitiere. Ich kann sie als individuellen Lebensentwurf lesen. Aber tatsächlich lauert hinter der Tür dieser Sätze nichts Geringeres als das Wachsfigurenkabinett eines patriarchal geprägten Literaturkanons. In diesen Sätzen wiederholt sich die Vorstellung von der Notwendigkeit absoluter Unabhängigkeit und Flexibilität der Schreibenden, derer es bedarf, um sich in die literarische Tradition eines eindeutig männerdominierten literarischen Kanons stellen zu dürfen. Ein Schreibleben also, bei dem viele Menschen durch gesellschaftliche Zwänge und ihre realen Lebensumstände, und damit vor allem nach wie vor Frauen, einfach nicht adäquat vorkommen, maximal „mitgemeint“ sind. 

Es geht um die schiefen verbrauchten Bilder, die Mär eines unabhängigen Menschen, dem entweder der Rücken (von Alltäglichem) freigehalten wird oder der in privilegierter Weise mit dem Rücken zur wirklichen Welt steht und sich weitgehend ungestört seinem Schaffen widmen kann. Diese in den Köpfen hartnäckig festsitzende Klischeevorstellung bedeutet für alle anderen, bei denen das nicht der Fall ist, die vorhandenen Zumutungen der künstlerischen Produktionsbedingungen letztlich akzeptieren zu müssen. Oder eben keine Kunst, keine Literatur produzieren zu können. Prinzipiell nicht oder ab einem gewissen Punkt in ihrem Leben nicht mehr. Die Stärke des Klischees zeigt sich daran, dass es sogar von einer politisch wachen klugen Autorin bedient wird. Ganz abgesehen davon, dass sich die meisten Schreibenden gar nicht leisten können, nur vom Schreiben zu leben, zu überleben. Wenn ich nicht nur schreiben, sondern auch alles andere oder etwas davon will, bin ich also keine richtige Autor*in? Sollten wir nicht längst weiter sein? 

Wir befinden uns also hier, mitten in einer Kultur- und Literaturlandschaft, die ein Verständnis von Kulturarbeitenden hegt und pflegt, das grundlegend neu gedacht werden muss. Die Ausschlussverfahren bedient, die das Leben vom Schreiben ausschließen, das ganz banale Leben, das stattfindet zwischen Menschen, Dingen und Orten. Und damit auch die Möglichkeit von Familie und Notwendigkeit von Care-Arbeit ausschließt. Mit Familie meine ich jede Form von Familie, nicht ausschließlich eine biologische. Mit Care-Arbeit meine ich jede Form von Sorgearbeit, Fürsorge und Betreuungsarbeit, nicht ausschließlich in einer Form von Familie. Ja, ich spreche auch von Elternschaft (wieder: jede Form davon) und – nicht ausschließlich biologische – Mutterschaft.

Nehmen wir die Künstlerin Hannah Cooke. Nachdem sie Mutter geworden ist, macht sie sich, wütend über den Betrieb und die Art, wie Mütter darin wahrgenommen werden, auf die Suche nach positiven Vorbildern in der Kunstwelt und findet abschlägige Antworten. „There are good artists that have children. Of course there are. They are called men.“, so Tracey Enim. Auch Marina Abramović meint, eine Frau könne entweder Künstlerin sein oder Kinder haben. Aber warum soll diese Prämisse nach wie vor nur für Frauen gelten, niemals für Männer? Hannah Cooke antwortet darauf in ihren Arbeiten. Ada vs. Abramović stellt detailgetreu das Setting von Abramović’ Arbeit The Artist is present nach, Cooke nimmt hier als stillende Mutter und Künstlerin den Platz als Abramović’ Gegenüber ein, bezieht konstruktiv Stellung.

Auch ich bin Schreibende und Mutter, darüber hinaus noch viel mehr: Partnerin, Schwester, Komplizin, Tochter. Wie ist das jetzt: Muss ich wählen, mich entscheiden? Ist die Unvereinbarkeit Fakt? Und ist diese Unvereinbarkeit jetzt mein privates Problem? Bedeutet, sich gegen Zuschreibungen und Zumutungen zu wehren, nur eine Ausnahme darstellen zu können in den vorhandenen Zuständen? 

An dieser Stelle muss die Brücke vom Ich zum Wir geschlagen, der Raum geöffnet werden. Ich sage: Care-Arbeit ist politisch. Aber warum?

Wir leben in einer Gesellschaft, die Care-Arbeitende – und damit vor allem Frauen – strukturell benachteiligt und sie gerade in gesellschaftlichen Ausnahmezuständen und darüber hinaus zur Selbstausbeutung zwingt. Oder zum Verstummen. Ohne ihre Stimmen und Perspektiven bleibt unser gesellschaftliches Narrativ unvollständig. Die Leerstellen, die dadurch entstehen, machen notwendige Veränderungen unmöglich. Wir verschenken ein Potenzial. Schreibende sind nicht automatisch auch Privilegierte und es darf nicht sein, dass nur Privilegierte schreiben. Ich bin mir sicher, dass auch dieser Satz bereits gesagt geschrieben geschrien worden ist: Die Welt verändert sich durch die Geschichten, denen wir Raum geben. Dadurch, dass wir Solidarität üben, Vernetzung suchen, dass es Raum gibt für Überschneidungen und Begegnungen zwischen unterschiedlichen Lebensentwürfen und Welten. Care-Arbeit ist nicht privat. Care-Arbeit ist politisch. Auf Care-Arbeit baut unsere Gesellschaft auf.

„Worte konnten mir nicht helfen, also hatte ich keine Worte“, sagt Rebecca Solnit, wenn sie von den Forderungen, Belästigungen und Zumutungen während ihres Heranwachsens erzählt, denen sie eingeschüchtert sprachlos gegenübersteht. Sie hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelernt, sich zu wehren.

Wenn inzwischen angeblich eine Umwertung von weiblichem Schreiben stattfindet, warum hinken die Rezeptions- und Produktionsbedingungen diesem Anspruch immer noch hinterher? 
Gibt es überhaupt ein weibliches und ein männliches Schreiben? Oder können wir die Kategorien endlich auflösen, kann es weniger um Geschlechter/Zuschreibungen und die damit einhergehenden Zumutungen gehen, sondern um Themen und Texte. 

Es beginnt mit den Produktionsbedingungen, wie Förderungen, Stipendien und Wettbewerben, deren Rahmenbedingungen gleichzeitig Ausschlussverfahren sind, da sie Sorgearbeitende ausschließen, ältere Autor*innen ausschließen.

Es beginnt mit den Auswahlkriterien, bei Agenturen, Verlagen, dem Feuilleton. Nur ein Text, der es durch diese Filter geschafft hat, darf auf eine Leser*innenschaft treffen. Eventuell. Was wird besprochen, gelesen, zum Vergleich herangezogen, in einen für lesenswürdig befundenen oder behaupteten Pflichtlektüre-Kanon aufgenommen? Was ist schon da und was fehlt noch in der Textlandschaft, welche Positionen, Perspektiven, Fragen, Lebensentwürfe, Identitäten und Erfahrungen? Und noch mal: Wie sieht es aus mit den menschlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen? 

Aber es geht ja nicht nur der Text durch diese Filter, sondern auch die Autor*in. Das Problem wurzelt auch in den überholten Kategorien, die immer noch gelten: Frauen würden Befindlichkeitstexte schreiben, Männern wird das welthaltige Erzählen zugeschrieben. „Frühlingserwachen, ein radikaler und kluger autofiktionaler Roman der Autorin Isabelle Lehn wurde in einer Rezension mit der Headline „Frustrierte Mitdreißigerin auf Tabletten“ betitelt. 

Lange Zeit gab es keine Sichtbarkeit von Autorinnen, war das Schreiben nur Männern vorbehalten. Gibt es eine Autorin im deutschsprachigen Raum, die als „Stimme ihrer Generation“ gefeiert wurde, ohne gleichzeitig verharmlost, verniedlicht oder durch sexistische Kommentare wieder verkleinert zu werden? Die absoluten Superlative in Beschreibungen und Rezensionen werden meist Autoren zugedacht, die „existenzielle Wucht“, es ist immer das Meisterwerk, niemals das Werk einer Meister*in. Wenn Autorinnen besprochen werden, ist der Ton oftmals stärker prüfend, zweifelnd und letztlich doch nicht vollkommen zufrieden, er will uns glauben machen: Es kann einfach nicht alles an diesem Text stimmen, er kann von keinem Genie sein, denn er ist von einer Frau.

Können Worte uns helfen, können wir uns herausschreiben aus den Zumutungen der Produktionsbedingungen des Literaturbetriebs, aus den Zumutungen der strukturellen Ungleichheit, der Vergabe von Plätzen-Platzierungen-Deplatzierungen? Verlieren wir spätestens dann unsere Glaubwürdigkeit, wenn wir in die entsprechenden Schubladen sortiert worden sind? Nach behaupteter guter Lesbarkeit oder Unlesbarkeit, Vermarktbarkeit des Textes, Verkäuflichkeit der Autor*in, Vermarktbarkeit der persönlichen/authentischen Geschichte der Autorin? Wie sieht es aus mit Alter, Lebendgewicht, Follower*innenzahlen? Wie autobiografisch ist der Text? Welche Denk-, Seh- und Lesegewohnheiten werden bedient? Was geschieht mit uns nach der Kategorisierung und Wertsteigerung durch Preise, Nennung, Sichtbarmachung? Was geschieht mit den Texten, denen ihr Wert abgesprochen wird, dadurch, dass sie weitgehend unsichtbar bleiben? Welche Verluste nehmen wir in Kauf? Ist der Text eine Zumutung für die Rezensent*innen, Leser*innen, Buchhändler*innen etc. etc.? 

Laurie Penny schreibt in ihrem Pamphlet Unsagbare Dinge„Wenn es für Frauen die einzige Freiheit sei, sich vom Arbeitsmarkt genauso ausbeuten zu lassen wie Männer, so sei das ein Fortschritt, den manche Frauen berechtigterweise nicht bejubeln.“

Statt von weiblichem oder männlichem Schreiben, sollten wir viel mehr von dringlichem Schreiben sprechen, über Autor*innen, die sich an gesellschaftspolitischen Themen abarbeiten, oftmals an Minderheitenpositionen. Wenn es ein weibliches Schreiben gibt, dann ist es politisch. 

Das Zimmer für uns allein, wie Virginia Woolf es gefordert hat, reicht schon lange nicht mehr. Es geht um die Öffnung der gesellschaftlichen Räume und Strukturen. Ein Umdenken in der Rezeption von Werken und auch im Rückblick auf Kultur- und Literaturgeschichte. Wie entstand der vorhandene Kanon? Wird er ausreichend hinterfragt, rückblickend verändert? Auch die Struktur innerhalb kultureller Institutionen ist Voraussetzung für deren Output. Es geht darum, den heteronormativ geprägten Blick auf die Welt zu verlassen. 

Kann schreiben wirklich alles sein, was wir tun? Sind wir nicht eigentlich der Makrokosmos, über den sich der Mikrokosmos, die Welt, erzählt. Welches Schreibleben findet so statt, abseits von zwischenmenschlichen Beziehungen, Verantwortung und ohne Verknüpfungen zwischen Gegenwart, Vergangenheit, Herkunft, Privatem und Politischem. Kein Schreibleben ohne Körper, Landschaft, Pflanzen. Autor*innen schreiben, das ist nicht alles, was wir tun. Wir sind Freund*innen, Kompliz*innen, Partner*innen, sind jemandes Kind, tragen Verantwortung als Fürsorgende, als Mütter, als Väter. Wir leben in Lebensrealitäten, für die strukturell Raum und entsprechende Arbeitsbedingungen geschaffen werden müssen.

Wir brauchen mehr als einen Raum zum Schreiben, wir kämpfen um einen Platz in der Geschichte, um unsere Fragen in die Welt zu stellen, unsere Geschichten sichtbar werden zu lassen. Gehen wir davon aus, dass eine Literaturlandschaft möglich ist, die diesen Raum schaffen und schützen kann, die es wagt, der Leser*innenschaft etwas zuzumuten. Gehen wir davon aus, dass Schreibende keine Privilegierten und bestimmt keine Genies sind, dass keine Legenden über sie konstruiert werden müssen. Gehen wir davon aus, dass Schreibende hart arbeiten, durch die Texte und darüber hinaus. An Utopien wie an konkreten politischen Zielen, sich an der Welt abarbeiten oder an einem Gedicht, das den verlorenen Tag rettet. 

Gehen wir davon aus, dass unsere Texte Zumutungen sein müssen.

Und über die Zumutung hinaus die gedankliche Basis, die wir als Ausgangspunkt nehmen können, um eine neue Gesellschaft zu bauen.



Sandra Gugić lebt und arbeitet in Berlin. Ihr Romandebüt “Astronauten” erschien 2015 bei C. H. Beck, ihr Lyrikdebüt “Protokolle der Gegenwart” 2019 im Verlagshaus Berlin. Im Herbst 2020 erschien ihr zweiter Roman “Zorn und Stille” bei Hoffmann und Campe.



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