Eine Rezension von Karsten Kruschel
Dieser in mehr als einer Hinsicht phantastische Roman erzählt von den Abenteuern des österreichischen Fotografen Zumbrunnen, der einen Narren daran gefressen hat, die Entwicklung der postsowjetischen Ukraine mit seinen Fotos zu begleiten. Daß seine Vorfahren aus Galizien stammen, mag seinen Teil zu dieser Besessenheit beitragen, auch die unglückliche Liebe zu seiner Dolmetscherin.
Zumbrunnen trifft zu Anfang des Romans in einem Hotel ein, das nicht nur einen unmöglichen Namen trägt, sondern auch vor Geschichte geradezu trieft. Tatsächlich liefert Andruchowytsch eine ausschweifende Darstellung jenes Gemäuers, viel ausführlicher, als der Leser es zunächst wissen möchte und mit einigen sehr deftigen Details.
Ebenso eindringlich werden die merkwürdigen Leute in dem Haus geschildert, allesamt mehr als nur ein bißchen verrückt. Intellektuelle, Stripperinnen, Video-Künstler und die Leibwächter eines Oligarchen bilden ein explosives Konglomerat, zu dem die Sagen um das Gespenst eines geheimnisvollen ukrainischen Dichters gemischt werden, der untot umgeht. Aber auch das ist nicht sicher.
Am Ende einer verwirrenden Handlung hat es sexuelle Verwirrungen, Poesie, windschiefe Gespräche, Gewalt, Suff, Liebe, historische Verwicklungen und Mord gegeben. Zumbrunnen läßt seine sterbliche Hülle zurück und reist als wacher Geist über die Landschaften Europas.
Der Erzähler bringt nicht einfach seine Geschichte, er sinnt auch immer wieder über die beste Art und Weise nach, seine Geschichte zu erzählen, so daß der Leser bald nicht mehr weiß, was nun tatsächlich zur Geschichte und was zu den Gedanken des – fiktiven – Autors über die Probleme des Erzählens gehört. Die geschilderte Welt wird dadurch eigentümlich irreal, sie wirkt in jedem Augenblick ausgedacht und fiktiv. Die rätselhaften Vorfälle und technischen Mätzchen werden ganz offen als literarische Kunstgriffe hingestellt. “Matrix” ohne Täuschung sozusagen.
Manchmal wechselt der Erzähler mitten in einer Szene den Hintergrund aus oder läßt Personen verschwinden, die nicht mehr ins Konzept passen. Sogar die pseudohistorischen Passagen geben sich ohne Scheu als fiktiv zu erkennen. Ich bin ein Kunstprodukt, winkt der Text mit Zaunslatten.
Für jemanden, der in einer Gesellschaft lebt und schreibt, die der offenen Diktatur entgegentaumelt, mag solche Taktik ein probates Verfahren sein, sich selbst zu schützen. Nach der inzwischen stattgefundenen orangenen Revolution sind solche Kunstgriffe womöglich nicht mehr überrlebensnotwendig – aber dem Irrtum von der endlich hereinbrechenden neuen Zeit sind die Bewohner der Ukraine schon nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fälschlicherweise einmal erlegen.
Der untote Dichter, der in diesem Buch umgeht, ist sowohl ein alter ego des Autors als auch ein Wunschbild, Ausdruck einer Sehnsucht nach etwas Großem. Nicht leicht zu behalten, so ein Traum, angesichts einer Welt, die in Eigennutz und Stumpfsinn unterzugehen droht. Zu den Untoten zählt irgendwann auch Zumbrunnen, der von seinen Saufkumpanen wegen eines finanziellen Mißverständnisses erschlagen wird und hernach als Astralwesen durch Europa fegt; plötzlich gibt es gar keine sauberen Trennungen mehr zwischen den so gern in die Randspalten des Feuilletons verdrängten Ländereien des Ostens und den westlicheren Gefilden Europas.
Dabei hat diese Trennung den Roman angetrieben: Zwischen der Anbiederung an den Westen und dem trotzigen Rückwärtsblick des Nationalismus schwanken die Bestrebungen, und der Autor hält sich weitgehend heraus. Über die huzulische Folklore allerdings macht er sich ein bißchen lustig.
Wortgewaltig und voller ungewöhnlicher Bilder beschwört Juri Andruchowytsch eine Welt zwischen Alptraum und Wachtraum. Wundersamerweise bringt er es fertig, seinen Roman licht und hoffnungsvoll enden zu lassen, obwohl seine Hauptperson tot ist und auch die Kontakte mit dem Jenseitigen dem Diesseits kein Heil gebracht haben. Für westliche Leser gewöhnungsbedürftig, diese spezielle Art der phantastischen Literatur.
Nachtrag 2012: Daß die orangene Revolution inzwischen wieder abgewickelt wurde und die Ukraine sich ihren alten Diktator wiedergewählt hat, wirkt im Lichte dieses Buches geradezu folgerichtig. Hat Andruchowytsch darin vielleicht die Wiederkehr der alten Gespenster visionär vorausgeahnt?
Juri Andruchowytsch: Zwölf Ringe. Roman, aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr (Dvanacjat’ obruciv), Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005, 307 S., Euro 22,90.
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