Als ab 2003 unter der Leitung von Peter Hartz die Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ der Bundesregierung ihre Pläne zu den neuen Arbeitslosen-Reformen und Änderungen der Jobvermittlung und des Sozialsystems vorstellte, war die Katastrophe noch nicht absehbar. Das heißt, der ein oder andere Arbeitsrechtler mag schon damals die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben, aber die Probleme im neuen “Kunden”-System der Arbeitsagenturen begannen erst nach einigen Monaten. Nun feiern wir bald das Zehnjährige und die Situation ist für gut 20% der Bevölkerung (Arbeitslose, Arbeitssuchende und Geringbeschäftigte) nahezu untragbar geworden. Irgendwie geht es, aber oft auch nicht mehr.
Zu diesem Schluss kommt auch “A wie Asozial”. Tobias Prüwer und Franziska Reif haben in einem Buch zusammengetragen, wie das System Hartz IV sich nach innen selbst demontiert. Es dokumentiert als eine Sammlung der tagtäglichen Verstöße gegen die Würde der Arbeitslosen, aber auch der Mitarbeiter des Vermittlungssystems, den Alltag am Existenzminimum. Vermittler, die für 380 Arbeitslose Sorge tragen sollen und Sanktionen verhängen müssen gegen Menschen, deren persönliche Situation sie aus Zeitmangel gar nicht einschätzen können. Akademiker, die in Computergrundkurse und Bewerbungstrainings vermittelt werden. Und letztlich auch “bedauerliche Einzelfälle” von Arbeitslosen, die nach jahrelanger Nichtbetreuung völlig abstürzen, sich das Leben nehmen, ihr Kleinkind verhungern lassen.
Aber wie konnte es so weit kommen? Das Buch möchte von allen Seiten Antworten geben, betrachtet das Thema aus Sicht der Gesetzeslage, der Mitarbeiter und der Arbeitsuchenden. Es betrachtet sowohl persönliche Geschichten, als auch den Gesetzesentwurf ansich. Es geht auf die Medienberichterstattung zum “faulen Arbeitslosen” ein und zeigt zurückhaltend Alternativen auf. Im Fazit lässt sich sagen: Das System ist das Problem.
Wir haben uns noch ein paar Worte lang mit Tobias Prüwer über das Buch unterhalten.

Franziska Reif und Tobias Prüwer
Litheart: Wer selbst nicht von Arbeitslosigkeit betroffen ist, oder in der glücklichen Lage ist, noch nie Sozialsicherungen bezogen zu haben, beschäftigt sich ja eher selten mit den Problemen des Systems. Wie seid ihr zum Thema gekommen?
Tobias Prüwer: Den Anstoß gab uns die eigene Erwerbslosigkeit nach dem Studium. Ich hatte zwar über die sozialstaatlichen Veränderungen gelesen, aber dass es eine so umfassende und an die Nieren gehende Situation ist, musste ich wohl erst am eigenen Leib erfahren. So begannen wir, uns intensiver für das System Hartz zu interessieren und erfuhren durch Recherchen und Gespräche, dass das Zwangsregime systematischer Natur ist, nicht zufällig. Da keimte dann die Idee, das mal jenseits des anekdotischen Einzelberichts oder der Ratgeberliteratur – die alle ihre Berechtigung haben – aufzuschreiben.
Litheart: Du hast dich für das Buch ausführlich mit dem System “Hartz IV” und der Agentur für Arbeit als Behörde beschäftigt und dabei ungeheuerliche Erfahrungsberichte zu Tage gebracht. Gab es im Verlauf der Recherche für dich persönlich Punkte, über die du ernstlich geschockt warst, oder die du so nicht erwartet hattest?
Tobias Prüwer: Eigentlich war ich immer wieder fassungslos beim Aufschreiben. Die Recherchen zogen sich ja in mehreren Wellen über ein paar Jahre hin; auch, weil wir nicht gleich einen Verlag fanden und das Projekt dann für andere Sachen immer mal wieder liegen ließen. Als wir dann das Buch letztlich fertig schrieben, war eigentlich diese Hülle und Fülle an Entsetzlichkeiten das am meisten Schockierende. Ich kann da gar nicht sagen, ob ich es schlimmer finde, wenn Schüler dazu gedrängt werden, früh die Schule abzubrechen, um eine Ausbildung zu machen, oder verpflichtende „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ wie Puzzle-Teile-Zählen.
Litheart: Der Literatur- und Quellenanhang von “A wie Asozial” ist beachtlich. Beim Lesen wird klar, wieviele Menschen sich bereits mit der Thematik beschäftigt haben. Dennoch hat man immer das Gefühl, man höre nur die negativ über Leistungsempfänger urteilenden Stimmen in der Öffentlichkeit. Warum glaubst du, ist das so?
Tobias Prüwer: Das ist einerseits gezielte Politik: Man denke nur an die Broschüre „Vorrang für Anständige“, in der Menschen als Parasiten bezeichnet wurden. Die Vollbeschäftigungsgesellschaft ist illusorisch, zugleich aber laut Meinungsumfragen Arbeit das bei der Bevölkerung wichtigste politische Ziel. Also muss man die Verantwortung für den Job auf den oder die einzelne abwälzen – man kann ja schlecht sagen als Politiker, dass man hier nichts machen kann. Zudem verstärken mediale Kampagnen diese negative Wahrnehmung, da kommen dann nicht nur im Boulevard Falschmeldungen oder werden einzelne Betrugsfälle zur Normalität hochstilisiert. Und drittens sind gerade die wissenschaftlichen Arbeiten vielen einfach unbekannt und damit nicht so leicht zugänglich.
Litheart: Ihr kritisiert viele durch interne Protokolle der Arbeitsagentur belegte Missstände und sprecht mit betroffenen Angestellten. Wie sind euch die Mitarbeiter der Agentur im Großen und Ganzen entgegen getreten, als ihr sie mit eurer Recherche konfrontiert habt?
Tobias Prüwer: Wir haben jetzt keine Pressesprecher angefragt oder Mitarbeiter direkt konfrontiert. Wir haben über Bekanntenkreise die Fühler ausgestreckt und uns “vermittelte” Jobcenter-MitarbeiterInnen angesprochen. Einige wollten sich nicht äußern, andere unter der Anonymitätszusage schon. Diese waren ja auch daran interessiert, dass sich etwas ändert oder wenigstens die Öffentlichkeit mehr darüber erfährt.
Litheart: Im letzten Teil des Buches stellt ihr dar, wie man sich wenigstens in Ansetzen gegen die “menschenunwürdige Praxis” des Arbeitslosensystems zur Wehr setzen kann, wie sich solidarisieren und teils auch rechtlich protestieren. Auch der Verzicht auf Arbeit und das bedingungslose Grundeinkommen sind Thema. Aber wie sähe für dich aktuell eine wirkliche Verbesserung der Lage aus, was könnte konkret in den nächsten zehn Jahren getan werden?
Tobias Prüwer: Da bin ich wenig hoffnungsfroh – man hat es ja nicht einmal geschafft, beim geplanten Mindestlohn die Erwerbslosen als ebenbürtig mit hineinzunehmen – Langzeiterwerbslose sind davon ja für sechs Monate ausgeschlossen. Eine angemessene Erhöhung des ALG-II-Satzes sehe ich derzeit genauso wenig kommen wie eine radikale Reform der Reform. Wenn wenigstens die Gewerkschaften beginnen würden, die Komplexität zu sehen, etwa wie Leiharbeit und Lohndumping durch den verfassungswidrigen Druck des »Forderns und Förderns« befördert werden – und ja: Es kann jeden jederzeit treffen –, könnte das der Beginn sein für eine veränderte Wahrnehmung von Hartz IV und das Entstehen einer Lobby.
Tobias Prüwer hat nach dem Geschichts- und Philosophiestudium eigene Begegnungen mit dem HartzIV-System gehabt und als Redakteur für eine Obdachlosenzeitung Erfahrung zum Alltag des fallengelassenen Teils der Bevölkerung gesammelt. Er lebt und arbeitet in Leipzig als Kulturjournalist.
Franziska Reif studierte Aglistik und Linguist und befasst sich als Autorin unter anderem mit den Entwicklungen und Verfestigungen im Bereich prekärer Beschäftigung und deren Auswirkungen auf andere Lebensbereiche. Sie ist außerdem als Lektorin und Übersetzerin tätig.
“A wie Asozial” ist mit einem Vorwort von Günter Wallraff im Tectum Verlag erschienen.
Reif, Prüwer
A wie Asozial
256 Seiten
Tectum Verlag
17,95€