„Letzte Ausfahrt Uckermark“ – so hatte Maxim Biller eine Philippika betitelt, die am 20 Februar 2014 in der Zeit erschien. Er nannte darin die deutsche Gegenwartsliteratur langweilig, vor allem, weil sich die deutsche Kulturwelt nie vom Aderlaß jüdischer Künstler und Intellektueller erholt habe und sich die vom Literaturbetrieb gepäppelte Enkelgeneration der Nazis vorwiegend mit sich selbst beschäftige. Unmengen Bücher würden geschrieben, rezensiert und ausgezeichnet – aber nicht gelesen. Und das jahrein, jahraus. Biller forderte zur Abhilfe eine spröde, störende, unbequeme Migrantenliteratur und konstatierte verstört und empört, daß die Einwandererkinder stattdessen „Onkel-Tom-Literatur“ produziere, die der Betrieb generös und skandalös mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis honoriere, weil da ein Fremder erstaunlich gut Deutsch könne.
Ich fragte auf Twitter, wie meine Follower dies einschätzen.
Ich lese gerade diesen Artikel von Maxim Biller über fehlende Immigrantenliteratur nach. Teilt ihr seine Ansicht? http://t.co/ut8ENM4zPJ
— N. White (@citoyenberlin) 25. Februar 2014
Es gab natürlich Reaktionen, #Followerpower sei Dank! Jo Hanna nannte einen Beitrag von Dietmar Dath, der am 21. Februar 2014 in der FAZ erschienen war: „Wenn Weißbrote wie wir erzählen“ – auch er hält nichts von deutscher Gegenwartsliteratur.
„Die Nichterwähnung deutscher Gegenwartsliteratur in diesen Kreisen [=Autorinnen und Autoren] ist kein taktisches Ausweichmanöver, sie ist in den meisten dieser Fälle echte, erarbeitete Ignoranz.“ Denn Literatur, so Dath, passiere und wirke jenseits von Literaturdebatten in gesellschaftlichen Zusammenhängen.
Tilman verwies auf einen Artikel von Volker Weidermann in der FAS vom 23. Februar 2013. Weidermann entgegnete, daß zwar der erste Teil der Analyse zutreffe, die geforderte Abhilfe von den Migranten jedoch längst geliefert werde. Unter den Beispielen, die Weidermann nannte, war auch „Isabel“ von Feridun Zaimoglu. Ein Buch, das „einem echt den Hut vom Kopf“ fege, mit stakkatohafter, schneller und genauer Sprache. Weidermann nennt ihn den „repräsentativste[n] deutsche[n] Autor unserer Zeit. Unser[en] Thomas Mann.“
Oha! Da wurde ich neugierig. Auf dem Nachhauseweg vom Büro machte ich einen Schlenker zur Autorenbuchhandlung und erwarb (25. Februar 2014) den Roman, erschienen bei Kiepenheuer&Witsch für 18,99 Euro. 237 Seiten, schlicht designt und einfach ausgestattet.
Der Text beginnt fulminant mit dem Vollzug einer Trennung und wir begleiten die Titelheldin Isabel in der anschließenden Phase der Neuorientierung. Zunächst in ihrer neuen Wohnung, dann in einem Club – wo sie einen jüngeren Mann abweist, der dann freilich mit Erfolg eine andere „klarmacht“. Zaimoglu schildert in wenigen Worten, wie trostlos das Nachtleben aus der Perspektive eines nüchternen Beobachters wirkt. Man versteht, warum der Einsatz von Rauschmitteln aller Art notwendig ist, um in diesem Szenario Spaß zu haben.
Isabel verläßt das Lokal und trifft ein alte Flaschensammlerin; gemeinsam gehen sie zu einer Armenspeisung, wo Isabel eine Freundin von früher trifft und mit ihr einen Wohnungstausch verabredet. Wir sind erst auf S. 24 und der Roman hat schon Fahrt aufgenommen.
Ich will hier gar nicht die ganzen Geschehnisse wiedergeben und einzelne Handlungsstränge nachzeichnen. Nachtleben, diverse sexuelle Spielarten, Einsamkeit, Verlassensein, Aneinandervorbeireden, Verletzungen, Armut, Gefahr, Gerüche – insgesamt eine hohlwangige Lieblosigkeit.
Die Sprache hat mir nicht gefallen. Eine Kunstsprache, die nach künstlicher Straße klingt. Elaboriert und dann amputiert. Kühl und hart, aber ausgedacht. Ich habe so noch niemanden reden hören, nicht im Bus oder auf dem Markt, keine Studenten oder Soldaten, nicht in der Kneipe. Am echtesten für meine Ohren klingen die Eltern von Isabel, wie insgesamt die Abschnitte in der Türkei, obschon sie mit dem Fremdgewordensein spielen, die traditionellsten sind.
Geht es in einem Ausschnitt am Rand unserer Gesellschaft so zu, wie Zaimoglu schreibt? Jenseits des Hartz-IV-Kosmos, fern vom „Unterschichtenfernsehen“. Klischee oder Antiklischee?
Überhaupt kein Lesegenuß also; Dinge, die ich weder wissen will noch lesen muß. Nichts, was mich berührt; eher weckt das Buch in mir das Bedürfnis, zu duschen und Abstand zu gewinnen. Unangenehm, unbequem, aber mehr auch nicht.
Ist das nun ein Buch, das der kraftlosen, selbstbezüglichen deutschen Gegenwartsliteratur Leben einhaucht? Das man später in der Schule liest, um zu sehen, wie das so war in Berlin am Anfang des 21. Jahrhunderts? Erste Kritiken in der Süddeutschen und in der FAZ, die man über Perlentaucher findet, lobten das Experiment der ausgehungerten, harten Sprache und fanden den Roman wichtig. Ähnlich positiv ein Gespräch im NRD: „[D]ie kurzen atemlos aneinandergereihten Hauptsätze und Satzfragmente sind gleichzeitig von beglückend nüchterner Intensität.“ Naja, das klingt ein wenig nach dem, was Maxim Biller anprangerte.
Und, pace Volker Weidermann, aber der Vergleich mit Thomas Mann hinkt gewaltig.
Hier findet man Tilmans Einschätzung.