novellieren

Aljoscha Brell – Kress

Aljoscha Brells Protagonist ist ein eigenbrötlerischer Misanthrop, der auf Distanz zu anderen Menschen bleibt – immerhin ist er ja viel intelligenter und gebildeter als Pack und Pöbel! Mit der Überheblichkeit ist es dahin, als er sich verliebt. Zu blöd nur, dass seine Auserwählte überhaupt kein Interesse an ihm zeigt.

„Wirklich, U-Bahn-Fahren war das Letzte! Er hasste es, Schulter an Schulter mit all diesen Leuten stehen zu müssen, eingepfercht wie Schlachtvieh in einen Tiertransporter. Dienstagmorgens war die Situation besonders fatal. Dienstagmorgens krochen all jene Studenten aus ihren Löchern, die am Montag ihren Rausch vom Wochenende auszuschlafen pflegten. Mittwochmorgens entspannte sich die Lage ein wenig, weil die Studenten empfanden, bereits am Dienstag etwas geleistet und sich daher eine Pause verdient zu haben, und am Donnerstag war im Grunde schon Wochenende und Kress hatte die U-Bahn mehr oder minder für sich. Jetzt aber war erst einmal Dienstag und die Enge kaum auszuhalten.“

Schon die ersten Seiten von Aljoscha Brells Debütroman „Kress“ zeigen: Sein Protagonist Kress ist ein Misanthrop, wie er (Achtung, schlechter Witz) im Buche steht, ein Mensch, der sich gerne über seine Nachbarn aufregt, die Kommilitonen, fröhliche Menschen… ach, einfach über alle, die nicht gerade seine intellektuellen Vorbilder sind. Er bewertet seine Umgebung mit dem elitären Gebaren eines Forschers, der Mikroben unter einem Mikroskop beobachtet. Denn Goethe-Experte Kress ist ein Literaturstudent mit Bestnoten und wird in Zukunft, dessen ist er sicher, als angesehener Intellektueller durch die Republik reisen. Da stört es auch wenig, dass er seit sieben Jahren außer Wohnung und Uni nichts gesehen hat.

Da sich Kress nicht mit dem niederen Fußvolk abgeben möchte, lebt er wie ein Einsiedler in seiner heruntergekommenen Wohnung in Neukölln. Er ist ein Mann voller Widersprüche: Während er Nachlässigkeit und Chaos bei anderen kritisiert, wohnt er in einer Bruchbude mit offenen Wänden und schimmelnden Geschirr im Spülbecken. Als einzigen Gesprächspartner hat er eine Taube auserkoren und Gieshübler getauft. Die Etikette wird gewahrt, natürlich siezt Kress Gieshübler. Ein Glück für ihn, dass Gieshübler nie widerspricht!

Kress‘ Alltagsroutine wird bereits am ersten Tag, an dem wir ihn kennenlernen, doppelt auf den Kopf gestellt: Seine Ersparnisse haben sich erschöpft, er muss sich also ganz irdischen Problemen widmen und einen Job suchen. Zudem lernt er Madeleine kennen und verliebt sich zum ersten Mal. Um ihr näher zu kommen, versucht Kress, sich wie ein „typischer“ Student zu verhalten und fährt mit Madeleine, ihrer Freundin Mona und der gesamten Clique in die brandenburgische Peripherie zum Zelten. Während es zunächst den Anschein hat, als könne Kress sich allmählich zu einem sozial kompatiblen Menschen wandeln, gibt es in der zweiten Hälfte des Romans einen radikalen Bruch und Kress wird wegen seiner Obsession um Madeleine zur schlimmsten Variante seiner selbst.

Aljoscha Brell gelingt das Kunststück, seinen Protagonisten durch dessen kauzige Art trotz seiner Arroganz sympathisch wirken zu lassen. Und selbst die Monate, in denen Kress sich vollständig verliert, verzeiht der Leser ihm schließlich. Schade nur, dass Brells Stil mitunter sehr umständlich ist. Die gestelzte Art von Kress wird durch seine Sprache unterstrichen – aber Kress‘ besonderes Idiom käme besser zur Geltung, wäre der restliche Text fern seiner Sätze weniger schwerfällig: „Aufgewühlt und auf eigentümliche Weise beseelt, klatschte er in die Hände und verfügte sich in die Küche, wo er sich ein Ketchupbrot herzurichten beabsichtigte.“ Uff. Abgesehen von diesen stilistischen Missgriffen ist „Kress“ ein warmherziger und unterhaltsamer Roman, den zu lesen lohnt.

Aljoscha Brell – Kress
Ullstein Buchverlage, Berlin
September 2015, 332 Seiten

Auch besprochen bei

Zeilensprünge