Wir wissen es alle: Kaum ein Roman hat in diesem und in den USA auch im vergangenen Jahr mehr Aufmerksamkeit erhalten als „Underground Railroad“ von Colson Whitehead. Das Interesse ist ungebrochen, was auch die komplett ausverkaufte Lesung im Stuttgarter Literaturhaus beweist – kein allzu häufiger Anblick. Moderiert von der Schriftstellerin und Journalistin Verena Lueken, die selbst jahrelang in New York lebte, stellt Whitehead seinen siebten Roman vor. „Underground Railroad“ habe ihn zu einem Promi gemacht, so Lueken, die US-amerikanischen Zeitungen berichten inzwischen sogar darüber, wenn Colson Whitehead sich ein Haus kauft, was wahrlich nicht üblich ist bei einem Schriftsteller. Ja, scherzt dieser, „money, fame, cocaine…“, das Publikum lacht, doch als Whitehead „despite my chronic depression, I’m trying to enjoy it“ hinterherschiebt, bleibt allen das Lachen im Halse stecken. War das ebenfalls ein Scherz oder ernstgemeint?
Zu vermuten ist letzteres, denn Colson Whitehead zeigt sich an diesem Abend definitiv von seiner ernsten Seite. Verena Lueken betont, dass alle Romane Whiteheads sehr komisch seien, außer, klar, „Underground Railroad“. „Is the US ready for the truth, the dark sides of their history?“, hakt Lueken nach. Whitehead zögert ein wenig und nennt dann den Süden als Beispiel: In North Carolina hatte man ihn in den fünfzehn Jahren zuvor nur dreimal eingeladen, allein im vergangenen Jahr aber fünfmal. Allerdings: „Mein Roman erreicht nur bestimmte Leute“, also keine White Supremacists, die niemals „Underground Railroad“ lesen würden. „Für viele Menschen ist die Sklaverei überhaupt nicht präsent, das wird sich zu meinen Lebzeiten auch nicht mehr ändern. Der Bürgerkrieg beispielsweise wird gerade im Süden in den Schulen nicht behandelt.“ Zu seinen Grundschul- und Highschooljahren habe man der Sklaverei „zehn Minuten“ gewidmet. Und heute? „Sind es vielleicht zwölf.“
„Underground Railroad“ ist kein historischer Roman, Ereignisse, Zeiten und Geographie sind nicht exakt. „What did you have in mind?“, möchte Verena Lueken wissen. Whitehead erzählt, dass er als Kind wirklich glaubte, die Underground Railroad sei ein Zug, eine Art Subway gewesen. Jedes Kind kenne den Begriff, auch wenn die Vorstellungen darüber mitunter sehr vage seien – wie hier die Weiße Rose, fällt Lueken dazu ein. Whitehead bezeichnet Sklavenhandel als „the cradle of capitalism“. Die USA seien dank der afrikanischen Sklaven eine Supermacht geworden. Lueken nickt. Es gebe gerade in diesem Feld noch „thousands of stories that haven’t been told yet“. Ist die Zeit reif dafür? Colson Whitehead stimmt ihr zu. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätten schwarze Autoren eine hyperrealistische Erzählweise wählen müssen – „Play it straight, you’re representing Black America” – während er jetzt die Freiheit habe, seine Geschichte auf postmoderne, mitunter leicht fantastische Art zu erzählen. „Heute kann man anders über race schreiben.“ Es wüchse eine ganze Generation von Künstlern heran, die durch Spike Lee inspiriert wurden. Warum also nicht Romane über Harriet Tubman, Nat Turner oder eben die Underground Railroad schreiben? „There are more of us“, die jetzt „schwarze“ Themen in Film, Fernsehen und Büchern behandeln.
Colson Whitehead liest eine Stelle aus dem Roman vor, die er fast auswendig rezitiert. Ja, er hat das schon ein-, zweimal gemacht. Die Szene, die er ausgewählt hat, ist besonders brutal. „Wie ist das für einen Autor, solche Szenen zu schreiben?“, fragt Verena Lueken. Der schwierigste Teil, so Whitehead, war nicht das Schreiben an sich, sondern die Recherche für den Roman. „Dadurch wurde mir klar: Es ist ein Wunder, dass ich hier bin, dass meine Vorfahren nicht gestorben sind.“ Während des Schreibens habe er sich gefragt, welche Stationen die ungebildete Cora bereisen müsse, um die Welt kennenzulernen, ihr Sklavendasein abzuschütteln. Denn das sei ein Teil der Reise: Eine Person werden, aufzuhören, „a piece of property“ zu sein. Für gewöhnlich, so Whitehead, würde er seine Bücher chronologisch von vorne nach hinten verfassen. Der Sklavenjäger Ridgeway habe ihm aber Schwierigkeiten bereitet, „it took many months to figure him out“, und deswegen seien diese Stellen sehr spät entstanden.
Auch Popkultur spielt eine relevante Rolle in Colson Whiteheads Leben und seiner kreativen Arbeit. „Underground Railroad“ ist serienmäßig erzählt, jedes Kapitel würde die Geschichte „rebooten“ (ein Begriff, der Verena Lueken so gut gefällt, dass sie ihn mehrfach aufgreift), da passt es, dass „Moonlight“-Regisseur Barry Jenkins eine Serie daraus macht. Mit diesem Gedanken habe er den Roman aber nicht geschrieben, betont Whitehead, sondern sich auf Werke wie die „Odyssee“ und „Gullivers Reisen“ bezogen. Zum Abschluss geht es um Musik: Whitehead dankt Künstlern wie den Misfits, David Bowie, Prince und Sonic Youth. Der gebürtige New Yorker sei „used to write to noise“ und ließe deswegen immer seine 2000 Lieder umfassende Playlist beim Schreiben laufen. Weitere Lieblingsmusiker: Run-DMC, Ella Fitzgerald, Daft Punk und Public Enemy.
Literaturhaus Stuttgart
30. November 2017
Colson Whitehead – Underground Railroad
Moderation: Verena Lueken
Mit: Lisa Wildmann