Die Grenze zwischen den USA und Mexiko aus Sicht eines Mannes, der beide Seiten versteht: Francisco Cantú beschreibt in „No Man’s Land“ seine vier Jahre als Grenzschützer bei der Border Patrol und seine persönliche Entwicklung von Idealismus zu Entsetzen zu Abstumpfung, die er durchmachte.
„…ich will nur wissen, ob es etwas zu tun gibt, solange ich hier warten muss, ob ich mich nützlich machen kann. Ich könnte den Müll rausbringen oder in den Zellen sauber machen. Sie sollen wissen, dass ich arbeiten will, ich bin kein schlechter Mensch. Ich bin kein Drogenschmuggler. Ich habe keine illegalen Sachen vor. Ich will arbeiten.“
Nichts versinnbildlicht die mexikanische/US-amerikanische Grenze besser als die beiden Städte Ciudad Juárez und El Paso, die quasi eins sind, nur getrennt durch besagte Grenze. Zumindest geographisch sind sie eins, sozial trennen sie Welten: Während Juárez den unrühmlichen Titel „Mordhauptstadt der Welt“ bekam (inzwischen ist die Mordrate zurückgegangen), gilt El Paso als sicherste Stadt in den Vereinigten Staaten.
Dieser paradoxen, fast bipolaren Beziehung zwischen den USA und Mexiko widmet sich Francisco Cantú in seinem reportageartigen Buch „No Man’s Land“. Nach seinem Studium, in dem er sich bereits mit der Grenze beschäftigte, beschließt der junge Cantú, die Theorie sausen zu lassen und die Grenze wirklich zu fühlen – als Teil der US Border Patrol. „Vielleicht ist es die Nähe von Leben und Tod, vielleicht ist es der Konflikt zwischen den beiden Kulturen, die wir in uns tragen. Jedenfalls werde ich es nur verstehen, wenn ich es unmittelbar erlebe“, erklärt er seiner Mutter, die wiederum den Grenzschutz knallhart als „paramilitärische Polizeitruppe“ bezeichnet.
Francisco Cantú, der, wie der Name schon erahnen lässt, selbst mexikanische Vorfahren hat, verliert früh seinen Idealismus. Er schildert viele furchtbare Anekdoten, die von verzweifelten Migranten, vor Durst verrückt gewordenen Menschen, Gefahrensituationen durch Narcos, von durch die Border Patrols nicht gemeldete Drogen, um sich nicht mit Papierkram aufhalten zu müssen, und Grenzschützern, die absichtlich gefundene Lebensmittel zerstören, erzählen, und setzt damit ein Mosaik der Verzweiflung, des Elends und des Todes zusammen. Der erste Horror vor so viel Leid weicht mit den Jahren und genau der Abstumpfung, vor der ihn seine Mutter gewarnt hat. Doch in seinen Albträumen wird Cantú von diesen Bildern weiter heimgesucht. Nach vier Jahren kann er nicht mehr und verlässt die Grenze. Die Erfahrung, die er gemacht hat, hat nicht dabei geholfen, den Konflikt zwischen den beiden Kulturen zu verstehen, wie er ursprünglich hoffte. Im Gegenteil: „Ich habe mehr Fragen als zuvor.“
Neben den vielen persönlichen Geschichten Cantús lässt er historische Exkurse und wissenschaftliche Berichte in „No Man’s Land“ einfließen, und hebt das Buch somit von einem Betroffenheitsbericht hoch zu einem mit vielen Fakten und Dokumenten untermauerten Essay, der dieser ungleichen Beziehung von Mexiko und den USA auf den Grund geht und dabei hilft, sie ein wenig besser zu verstehen.
Gegen Ende des Buches, Cantú ist lange nicht mehr bei der Border Control, freundet er sich mit José an, einem freundlichen, arbeitsamen Mann und Vater von drei Kindern, der seit dreißig Jahren illegal in den USA lebt. Als José seine todkranke Mutter in Mexiko besucht, kann er nicht mehr zurück – er wird tatsächlich abgeschoben. Jeder erneute illegale Versuch eines Grenzübertritts rückt die Möglichkeit, eines Tages legal in die USA einwandern zu können, in weitere Ferne. Cantú versucht, dem Mann zu helfen – aus Freundschaft? Als Wiedergutmachung für die vielen Existenzen, die er als Grenzpolizist zerstört hat? Wer will das schon genau sagen. Nach den vielen zumeist namenlosen Migranten hilft Josés Geschichte (ganz zum Schluss auch aus seiner Perspektive geschildert), den Leserinnen und Lesern zu verdeutlichen, dass hinter der jedem Flüchtling und hinter jedem Migranten ein eigenes Schicksal steht. Cantú verleiht zumindest einem von ihnen ein Gesicht.
Zum Weiterlesen: Jeanette Erazo Heufelder – Welcome To Borderlands
Francisco Cantú – No Man’s Land. Leben an der mexikanischen Grenze
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Hanser Verlag, München
August 2018, 239 Seiten
#supportyourlocalbookstores