Die Macht der Sprache: „Die Dinge beim Namen nennen“, dafür plädiert die bekannte US-amerikanische Essayistin Rebecca Solnit in ihrem neuen Buch, in dem sie Gesellschaft und Politik der Vereinigten Staaten kritisch beleuchtet – teilweise macht sie das gewohnt großartig, teilweise aber verfehlt sie ihre Intention.
Erst wenn man die Dinge beim Namen nennt, so Rebecca Solnit, beginne man damit, sich zu befreien – nicht zuletzt wurde die Heldin in dem Moment von Rumpelstilzchens Erpressung erlöst, als sie seinen wahren Namen aussprach. In ihrem neuen Essayband, der genau so heißt, „Die Dinge beim Namen nennen“ nämlich, zählt Solnit zur Verdeutlichung dieser These Beispiele für Formulierungen und Redewendungen auf, die erst vor wenigen Jahren in unseren Sprachgebrauch eingeführt wurden, aber bereits geläufig sind, wie „Cisgender“, „Racial Profiling“ oder „das eine Prozent“ etwa.
Hierzulande vor allem wegen ihrer feministischen Texte bekannt, erweitert Rebecca Solnit in „Die Dinge beim Namen nennen“ ihre Themen; schreibt über die US-amerikanische Präsidentschaftswahl, Gentrifizierung, Polizeigewalt, Rassismus und die immer noch sichtbaren Spuren der Konföderation. Auch wenn nicht wenige ihrer Analysen von gesellschaftlichen Situationen, Strömungen und Problematiken universell sind, bleibt ihr Blick dabei immer auf die USA gerichtet – deswegen auch der Zusatz „American Crises (and Essays)“ im Originaltitel, der wohl aus Verkaufsgründen auf Deutsch weggelassen wurde.
Wie viele US-amerikanische Intellektuelle war auch Rebecca Solnit von der Wahl Trumps zutiefst geschockt, und so widmet sie diesem Gegenstand gleich mehrere Essays, die im Kapitel „Wahlkatastrophen“ gebündelt sind. Darin schildert sie die Auswirkungen von Donald Trumps patriarchalen Habitus auf das Ergebnis, listet Wahlmanipulationen auf und untersucht ausführlich, warum Clinton als Frau niemals eine Chance hatte. Denn, wie Rebecca Solnit richtigerweise sagt: „Figuren auf beiden Seiten des politischen Spektrums schrieben Hillary Clinton für die Politik ihres Mannes mehr Verantwortung zu als ihm selbst […].“ Bei all ihrem Groll und Spott auf Trump allerdings rückt Solnit seine Konkurrentin Hillary Clinton in ein allzu positives Licht, das dem Realitätscheck nicht standhält – so unterschlägt sie, ausgerechnet die sonst so engagierte Feministin, die Freundschaft der Clintons zu Harvey Weinstein.
Herausragend ist Rebecca Solnit in den Texten, die sie persönlich beziehungsweise ihre direkte Umgebung betreffen, allen voran in dem gelungenen vierzigseitigen Essay „Tod durch Gentrifizierung: Der Mord an Alex Nieto und die Verrohung von San Francisco“. Darin stellt sie gekonnt den Mord an einem jungen Latino, der von vier Polizisten erschossen wurde (die man im Verlauf des Gerichtsprozesses, es überrascht kaum, freisprach), Rassismus, Diskriminierung von Obdachlosen und die Auswirkungen von Verdrängung in einem Viertel von San Francisco in kausalen Zusammenhang. In einem weiteren starken Kapitel erzählt sie die Geschichte eines Afroamerikaners, der seit 25 Jahren in San Quentin auf seine Hinrichtung wartet – und vermutlich unschuldig ist, wie Solnit aufzeigt.
Relativ solide von Bettina Münch und Kirsten Riesselmann auf Deutsch übersetzt, gibt es in dem Buch leider mehrere Stellen, die irritieren. So wird einerseits nicht konsequent gegendert, was beim flüssigen Lesen stört (dies sei mit kritischem Blick gen Lektorat bemerkt), und vor allem sind Begriffe wie „Indianer“ oder gar „getürkt“ in einem Buch, das unter anderem Rassismus anprangert, wahrhaft unangebracht. Schlimm auch der ein oder andere inhaltliche Schnitzer: Tamir Rice, Sandra Bland und Eric Garner, allesamt (bekannte!) Opfer rassistischer Polizeigewalt, werden als „Journalistinnen und Journalisten“ bezeichnet. Wie konnte das passieren?
Rebecca Solnit ist eine scharfsinnige Analystin mit klarer Agenda, die die US-amerikanische Gesellschaft genau unter die Lupe nimmt und nicht davor zurückscheut, den Finger in die Wunde zu legen – und dabei trotzdem nicht die Hoffnung verliert. Eindringlich erinnert sie daran, dass Proteste, Demonstrationen, Streiks und Engagement oft nicht in direkter Konsequenz eine Änderung bewirken, langfristig jedoch großen Einfluss haben können.
Wenn aber die Dinge beim Namen genannt werden sollen, wie Solnit zu Recht fordert, bei „their true names“ sogar, wie der Originaltitel lautet, dann muss auch die Autorin ihren eigenen Imperativ zu Herzen nehmen und die Klimakatastrophe nicht weiter mit dem euphemistischen Begriff „Klimawandel“ bezeichnen. Solnit selbst sagt uns, warum: „Der Klimawandel ist Gewalt im globalen Maßstab, Gewalt gegen Orte und Arten genauso wie gegen Menschen. Wenn wir ihn endlich korrekt benennen, können wir damit anfangen, uns wirklich über Prioritäten und Werte zu unterhalten. Denn der Aufstand gegen die Brutalität fängt mit dem Aufstand gegen die Sprache an, die diese Brutalität verschleiert.“
Dieser Text erschien bereits in der Literaturbeilage der jungen Welt vom 12. Juni 2019.
Rebecca Solnit – Die Dinge beim Namen nennen
Übersetzt von Bettina Münch und Kirsten Riesselmann
Hoffmann und Campe, Hamburg
April 2019, 320 Seiten