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Cihan Acar – Hawaii (Gastbeitrag von Kai Wieland)

Als jemand, der sich nicht allzu genau mit den Verlagsvorschauen beschäftigt, werde ich auf manche Titel erst aufmerksam, wenn sie mir in einer Buchhandlung begegnen. So war es auch in diesem Fall, und ich war ziemlich überrascht angesichts eines bei Hanser erschienenen Romans, der in Heilbronn spielt und den Titel „Hawaii“ trägt – immerhin habe ich ein Buch geschrieben, das zumindest teilweise in Heilbronn spielt und „Amerika“ heißt. Womit ich keinen Plagiatsvorwurf äußern möchte, denn Cihan Acars Romantitel hat sehr viel eher seine Berechtigung als der meine, jedenfalls ist der Bezug offenkundiger.

Raues Pflaster am Neckar

Heilbronn hat, vorsichtig ausgedrückt, nicht den besten Ruf unter den größeren Städten im Südwesten – scherzhaft spricht man bisweilen auch von „Heilbronx“ und „Neckarslums“ (mit Letzterem ist das nahtlos an Heilbronn grenzende Neckarsulm gemeint). Einerseits vergisst man bisweilen, dass es mit 125.000 Einwohnern eine relativ große Stadt ist (vergleichbar etwa mit Ulm), was vielleicht damit zusammenhängt, dass es hier seit dem Niedergang des VfR Heilbronn keinen auch nur ansatzweise höherklassigen Fußballverein mehr gibt. Auf der anderen Seite erfreut sich Heilbronn all der Nachteile einer Großstadt: viele Baustellen und viel Verkehr, triste Bebauung (die Stadt hat im Zweiten Weltkrieg erheblich gelitten), ein verrufenes Hafenviertel und einige sogenannte „soziale Brennpunkte“ – ein solcher Brennpunkt ist (oder war) das Hawaii.

Im Hawaii bin ich nie gewesen, aber ich habe in Heilbronn meine Ausbildung gemacht und kenne viele der Orte, an denen der Roman ansonsten spielt. Und ich kann auch bestätigen, dass Heilbronn oft nach Suppe riecht, denn neben Kaufland/Lidl und den NSU Motorenwerken ist auch Knorr eine Heilbronner/Neckarsulmer Marke. Ehrlich gesagt ist diese Stadt weit besser als ihr Ruf, auch wenn sie nach wie vor regelmäßig unter die hässlichsten Städte Deutschlands gewählt wird.

Zwischen den Fronten

Das findet auch Kemal, Cihan Acars junger Protagonist. Kemal ist gerade einmal Anfang 20 und hat doch schon ein ganzes Leben hinter sich. Aufgewachsen im Hawaii, wechselte er als junges Talent – apropos Fußball – in die erste türkische Liga, doch sein rasanter Aufstieg endete jäh durch einen selbst verschuldeten Autounfall während eines Straßenrennens. Also ist Kemal nun wieder zu Hause, im Hawaii bei seinen alten Kumpels, innerhalb der türkischen Community und inmitten einer Stadt im Aufruhr.

Allerdings ist sie das nicht von Beginn an: Acars Roman, der sich an einem einzigen langen Wochenende im hochsommerlichen Heilbronn abspielt, ist ein Protokoll der Eskalation. Eher beiläufig nimmt Kemal anfangs die latent bis offen rechte Bewegung „Heilbronn wach auf“ (HWA) zur Kenntnis, und auch die nicht weniger gewaltbereite migrantische Gegenbewegung der Kankas – von „kankardeşler“, zu Deutsch wohl „Blutsbrüder“ – ist ihm zunächst eher suspekt. Ohnehin hat Kemal ganz andere, nämlich private Probleme, konkret die Liebe und das liebe Geld. Zudem ist er einer, der immer zwischen den Fronten steht: Aufgrund der bosnischen Herkunft seiner Mutter und seiner hellen Hautfarbe wird er oft für einen Deutschen gehalten, überhaupt wird sein Türkischsein von seinem türkischen Umfeld regelmäßig angezweifelt. Auf der anderen Seite empfindet er sich auch nicht als durch und durch deutsch, und verschiedene Ausprägungen von Alltagsrassismus bis hin zu offenen fremdenfeindlichen Beleidigungen bestätigen ihn in diesem Bewusstsein.

Erst als ein türkischer Junge von einem Neonazi abgestochen wird, beginnt Kemal sich mit der prekären Situation in der vor Hitze kochenden Stadt zu beschäftigen und tritt kurzzeitig den Kankas bei, ergreift aber – geschockt von der Gewaltbereitschaft der Gruppe – bald wieder die Flucht.

Gesellschaftliche Tendenz im Kleinen

Mit Fortdauern des Romans sieht er auf den Straßen zunächst immer öfter und schließlich fast nur noch Menschen in gelben HWA- oder schwarzen Kanka-Shirts. Die Unpolitischen und die gemäßigte Mitte scheinen aus Heilbronn verschwunden zu sein. Hinzu gesellen sich türkische Söldner und rechte Unterstützer aus dem Rest der Republik – jung, männlich, erlebnisorientiert –, und so kommt, was kommen muss: Im Zuge eines samstäglichen Volksfests auf der Theresienwiese – dem Ort, an dem rund zehn Jahre zuvor die Polizistin Michèle Kiesewetter vom Nationalsozialistischen Untergrund erschossen wurde – eskaliert die Situation und es kommt zu Straßenschlachten, Plünderungen, Chaos und der Besetzung ganzer Stadtteile. Das Ausmaß des Ausnahmezustands, den Acar überaus packend beschreibt, mag man für übertrieben halten. Wie brüchig aber die Fassade unserer Zivilisation ist, kann man dieser Tage an der griechisch-türkischen Grenze ja beobachten – oder man schaut einfach vor die Haustür, wo die Menschen mittlerweile Toilettenpapier und Desinfektionsmittel aus den Krankenhäusern oder vom Arbeitgeber klauen.

Kemal will von dieser ganzen Scheiße nichts mehr wissen, sondern bloß noch weg: Irgendwohin, wo er nicht dazugehören, oder besser gesagt, nirgends hineinpassen muss – denn für einen Wandler zwischen den Lagern gibt es nichts Schlimmeres. Und doch schwebt über seiner Entscheidung zur Flucht letztlich eine düstere Erkenntnis, mahnend, drohend:

Idioten gibt es immer und auf beiden Seiten.
Wirklich schlimm wird es aber erst, wenn die Mitte verschwindet.

Kai Wieland, *1989 in Backnang, war im Jahr 2017 einer der Finalisten bei der ersten Auflage des Blogbuster-Wettbewerbs. Sein Debütroman „Amerika“ erschien 2018 bei Klett-Cotta und wurde im selben Jahr mit dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet. Im Mai 2020 erscheint sein zweiter Roman „Zeit der Wildschweine“. Mit dem gleichnamigen Manuskript war er bereits für den Alfred-Döblin-Preis nominiert.

Cihan Acar – Hawaii
Hanser Berlin
Februar 2020, 256 Seiten