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Cemile Sahin – Alle Hunde sterben

Die Gewalt in einer militarisierten Gesellschaft: düstere Gegenwartsanalyse in Cemile Sahins zweitem Roman „Alle Hunde sterben“.

Sie möchten hier nicht bleiben. Sie, das sind unter anderem Haydar, Murat, Sara und Nurten, die in einem Hochhaus wohnen, dessen Nachbar*innen eins eint: Sie möchten hier nicht bleiben. Aber sie können auch nicht gehen. Dieses 17-stöckige Haus, so erfahren wir im kurzen Epilog von Cemile Sahins zweitem Roman „Alle Hunde sterben“, befindet sich im Westen der Türkei. Andere örtliche, zeitliche oder personelle Marker gibt es nicht. Die Story, die Sahin erzählt, ist universell.

Quasi wie im Aufzug hoch und runter führt die Autorin durch die Stockwerke, blickt in die Wohnungen und schildert in neun Episoden die Geschichten ihrer Bewohner*innen, die sich in diesem Hochhaus in einer Art Exil (zumindest innerem Exil) und Wartezustand zugleich befinden. Warten tun sie alle, denn sie wissen: Fliehen können sie nicht, aber irgendwann kommen die Soldaten, die Polizisten, sprich: die Täter, namenlose Repräsentanten des Staats, und wenn es soweit ist, möchte man vorbereitet sein. Ihre Zeit füllen sie mit Erinnerungen an ihre schmerzhafte Vergangenheit, die sie in dieses Hochhaus führten. Und so unterschiedlich ihre persönlichen Schicksale auch sind, so sehr gleichen sie sich in der kollektiven Erfahrung an Schmerz, Folter, Verlust, Wut, Trauer und, teilweise, dem Bedürfnis nach Rache.

Da ist zum Beispiel Umut, der mit seiner Tochter floh, zuvor aber selbst sein Haus anzündete. „Lieber bringe ich es mit eigenen Händen zu Ende“, sagt er rückblickend darüber. „Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Soldaten mein Haus zerstören und danach anzünden.“ Oder Nurten und Hasso, die drei Söhne im Land verteilt in Gefängnissen haben und den vierten am Wegesrand begraben mussten, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Necla, die gleich zu Beginn des Romans gezwungen wird, in einer Hundehütte vor dem Hochhaus zu leben und eine tote Ratte in den Mund zu nehmen. Gesellschaft hat sie zwar von ihrem Hund, doch es ist Metin aus dem zweiten Stock, der später den Hinweis darauf gibt, wer mit den „Hunden“ im Titel von Cemile Sahins Roman eigentlich gemeint ist: „Sie denken, sie sind keine Tiere, aber sagen: Wir hängen euch auf wie Hunde. Hunde sind nichts wert in diesem Land, jetzt sind wir ihre Kettenhunde. Im Gefängnis vergessen die Wärter, dass sie Menschen sind, und sie vergessen, dass die Gefangenen Menschen sind.“

Das Hochhaus dieser Vertriebenen ist ein ganz eigener Kosmos. Sie wurden von ihrer Regierung zu Feind*innen ihrer erklärt, denn „in Augen der Armee zählt die Hälfte des Landes zu den Terroristen“, wie es Murat aus dem neunten Stock formuliert. „Da fragst du dich schon, ob alle wirklich dasselbe glauben.“ Und jetzt harren sie ihres ungewissen Schicksals, ein Schicksal, das in Sahins Welt eine ganz eigene Blase ohne konventionellen Alltag ist, in der simple Erledigungen wie Einkaufen gehen oder Kochen (bis auf Nurten, die manisch Brot backt) nicht gibt. Auch dies nicht zuletzt, wie die fehlenden Personen- und Ortsnamen, ein Hinweis darauf, dass „Alle Hunde sterben“ nicht zwangsläufig nur die Geschichte der Kurd*innen in der Türkei erzählt, wie angedeutet wird, sondern eher als allgemeine Allegorie auf militarisierte Gesellschaften weltweit verstanden werden kann.

Cemile Sahin, die 1990 in Wiesbaden geborene Autorin und Künstlerin (in der Ausstellung Studio.Berlin im Berghain sind derzeit ihre und die Werke von 116 weiteren Künstler*innen zu sehen), setzte sich schon in ihrem Debüt „Taxi“, das Anfang 2019 im kleinen Korbinian Verlag veröffentlicht wurde und in sämtlichen Feuilletons besprochen wurde, mit dem Thema Krieg auseinander. Während „Taxi“ eine ironische Unternote hatte, bleibt „Alle Hunde sterben“ todernst und distanziert zugleich. Ihre Figuren erzählen ihre Geschichten einer übergeordneten, nicht näher beschriebenen Instanz, bleiben dabei nüchtern und ohne Sentimentalitäten, aber auch ohne Erwartung auf Verbesserung ihrer Situation, ohne die Aussicht, ihre verschleppten Familienmitglieder wiederzusehen.

Hoffnung gibt es bei Cemile Sahin nicht. Oder, um es mit den Worten von Haydar aus dem Neunten zu sagen: „Wenn Gerechtigkeit zu spät kommt, macht sie ein zerteiltes Leben nicht besser.“

Cemile Sahin – Alle Hunde sterben
Aufbau Verlag, Berlin
239 Seiten, September 2020