Michael Molsner: Dich sah ich

„Gott hat mir zugelächelt, als er uns zusammenführte. Und wem er sein Lächeln einmal zeigt, dem bleibt er gewogen“

molsnerMichael Ratys ist noch Schüler, kurz vor dem Abitur steht er, als er seine Jungfräulichkeit verliert – an die junge Deutschlehrerin Charmaine. Ihre Nachmittage verbringen die beiden fortan im Bett, setzen sich hinweg über gesellschaftliche Konventionen und ignorieren die Gefahr, der sich Charmaine aussetzt beziehungsweise nutzen das erotisierende Potenzial der ständigen Bedrohung. Es ist jedoch nicht der Sex allein, der sie zueinander hinzieht, nein, es ist die Liebe. Eine Liebe, die anfangs nur einen kurzen Auftritt hat, die aber zehn Jahre später erneut entfacht wird und weiter lodert, immer weiter. Die äußeren Umstände sprechen gegen diese Liebe – Ehepartner, Berufs- und Ortswechsel –, aber Michael und Charmaine setzen sich in all den Jahren über jede Art von Widrigkeit hinweg: „Unheimlich fand ich, welche Macht du über mich hast. Ich aber auch über dich, ging mir auf.“ Und jetzt, wo Charmaine nach einem Anschlag im Koma liegt, hat Michael nur diese Liebe, um zu ihr durchzudringen – und damit hat er viel. An ihrem Krankenbett sitzend, erzählt er Charmaine ihre gemeinsame Geschichte – und entwirrt dabei sogar die Fäden, die ihn zum Täter führen.

Der Drehbuch- und Krimiautor Michael Molsner legt mit Dich sah ich einen sehr klugen Roman vor, in dem eine Liebesgeschichte durch die Wirren der Zeit führt, die Deutschland seit den 1960er- Jahren erlebt hat, und der ausschließlich von der mündlichen Rede lebt. Der Schriftsteller hat sich für eine ungewöhnliche Erzählform entschieden: Sein Protagonist Michael ist ein Ich-Erzähler, der mit seinem Gegenüber – der bewusstlosen Charmaine – in direktem Dialog steht, eher noch einen Monolog hält, da er ja keine Antwort bekommen kann. Das gefällt mir sehr, weil ich vom Leser zum Zuhörer werde, der einer angenehmen Stimme lauscht; weil keine anderen Sprecher ablenken; weil die Handlung reduziert ist und der Inhalt des Gesagten intensiv. Auf einer Feier wurde Charmaine bei einem Bombenattentat schwer verletzt, und Michael legt seine ganzen Erinnerungen in die Waagschale, damit diese zugunsten von Charmaines Leben kippt. Alle Erinnerungen, die er hat, sind an Charmaine gebunden, denn sie, seine ehemalige Deutschlehrerin, liebt er schon, seit er 18 Jahre alt ist. Fast ein ganzes Leben haben sie miteinander verbracht – und zwar immer nur in aller Heimlichkeit. Ihre Affäre behält auf ewig das Prickeln, weil sie sich nie einem 24-Stunden-Alltag stellen muss. Dennoch tut Molsner nicht so, als wäre diese Liebe weltbewegend, unerschütterlich und im Himmel gemacht, sondern erfüllt die beiden Liebenden mit einer großen Zuneigung ganz ohne Pathos.

Dich sah ich ist ein politischer Roman, der die Revolte von 1968, den Terror der 1970er-Jahre und die kontroversen Meinungen über den Kommunismus behandelt, Themen, zu denen jede Figur im Buch Stellung nehmen muss und die in sich die Lösung des Attentat-Rätsels bergen. Dich sah ich ist ein Gesellschaftsroman, der das Deutschland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abbildet und dessen Moralvorstellungen als Rahmenbedingungen nutzt. Und Dich sah ich ist ein Liebesroman, der die Gefühle zweier Menschen über alles stellt und jene Botschaft verkündet, die wir alle hören wollen, immer wieder, weil sie uns hoffen macht: dass es sie gibt, die ewige Liebe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
das Cover finde ich sehr passend mit dem schönen alten Foto, in der Buchhandlung hätte es mich aber wohl nicht nach dem Roman greifen lassen.
… fürs Hirn: die Hintergrundinformationen über die politischen Geschehnisse.
… fürs Herz: alles, alles!
… fürs Gedächtnis: der Oktober Verlag, von dem ich hiermit zum ersten Mal ein Buch gelesen habe und dessen Programm Interessantes aufzuweisen hat, sowie mein Lieblingszitat: “Unter den grauen Schläfen erkennst du den braunen Schopf des Achtzehnjährigen. Weil du mich siehst, wie ich dich sehe. Alle meine Gesichter. Wie ich deine sehe. Alle gleichzeitig.”

Michael Molsner: Dich sah ich. Oktober Verlag 2011, 300 Seiten, 14,00 €.

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