[Gastrezension] Heinz Emmenegger: Messer Sieben

EmmeneggerMenschen geraten außer Kontrolle. Wo einst eine Gefühlsregung zarte Knospen trug, wuchert schon bald eine undurchdringliche Hecke wilder Triebe! Doch wo kämen wir hin, wären wir nicht imstande, sie im Zaum zu halten, hübsch ansehnlich nach außen, ein feiner kleiner Komissgarten der Rechtschaffenheit, mit ein paar winzigen Löchern darin, kaum sichtbar, aber doch groß genug für ein menschliches Auge, um Beobachtungen anzustellen.

Die Beobachtungen, die Heinz Emmeneggers Erzähler anstellt, führen den Leser tief hinein in eben dieses undurchdringliche Dickicht. Während die Bewohner einer fragwürdigen Dorf-Idylle ihre Wunden lecken und ihre Eitelkeiten hegen und pflegen, braut sich etwas zusammen, etwas schwelt im sorgsam aufgeschichteten Unterholz: Messer Sieben ist verschwunden! Messer Sieben ist Schlachtermeister Schweglers ganzer Stolz, und Schlachtermeister Schwegler ist der ganze Stolz unserer suboptimal sozialisierten, aber doch eher harmlos anmutenden Dorfgesellschaft, in der jeder seinen Platz beansprucht, mit wohlausgebildetem Argusauge mal von oben herab, dann wieder von ganz tief unten herauf das wachsende Misstrauen beäugt. Es wird unbehaglich, und dieses kollektive Unbehagen frisst sich seinen Weg auf ganz natürliche Weise in das Bewusstsein des Lesers: Er weiß alles, und doch weiß er nichts, immer ein bisschen zu wenig, um zu verurteilen, immer ein bisschen zu viel, um zu vertrauen. Das vermaledeite Messer als Zivilisationsrelikt reißt er vor seinem geistigen Auge immer wieder aus dem verstümmelten Torso, ohne dadurch recht eine Befriedigung zu erfahren. Denn als Corpus Delicti macht sich Messer Sieben nicht gut, überhaupt entzieht es sich jeder Kategorisierung, schließlich ist es in erster Linie verschwunden. Und Messer Sieben braucht auch kein Opfer: Denn es hat endlich aufbegehrt gegen die jahrhundertelange Instrumentalisierung durch die menschliche Rachsucht, das Kulturobjekt hat eine eigene Stimme gefunden, und was es uns offenbart, ist finster wie ein Rattenloch und böse wie der Teufel!

Heinz Emmenegger trägt seine Figuren so behutsam durch den Dschungel der Unvorhersehbarkeiten wie eine Katzenmutter ihre Jungen. Jeder gewährt er die absolute Rechtfertigung für ihr Handeln, jeder schenkt er ein Repertoire ganz erstaunlicher und doch merkwürdig vertrauter Eigenheiten. Emmenegger schafft ein Panoptikum, ein Madame Tusssaud menschlicher Interaktion, in dessen Kosmos Mittel und Zweck bisweilen die Rollen tauschen und uns ratlos zurücklassen. Manches Mal sind wir geneigt, selbst an den Gartenzaun unseres Poierot’schen Schrebergartens zu rennen und lauthals zu petzen, doch genau in diesem Moment reißt es uns wieder den Boden unter den Füßen weg und wir futieren uns, ganz wie Schwegler und seinesgleichen, und keiner kann so richtig seinen Kopf verlieren, denn über uns allen und denen allen hängt Messer Sieben wie ein Damoklesschwert. Es ist Bedrohung und Erlösung zugleich, phänomenal!

Emmenegger ist ein Handpuppenspieler von fast schon gruseliger Versiertheit: Er lässt seine Figuren marschieren, auf einem seidenen Faden, über einem unsichtbaren Abgrund, nicht höher als eine Teppichkante, und doch tief wie der Marianengraben. Er tut dies auf wunderbar pointierte Art, immer fein austariert zwischen analytischer Schärfe und wohldosierter Geschwätzigkeit. Stellenweise fast kafkaesk, wenn ein Traumbild nicht ganz aus der Ratio verschwinden will. Vielleicht ist der Autor seinem Herrn Berchtold sehr ähnlich, denn der hat, so heißt es, verschiedene charakterliche Ausprägungen: „Er kann heißspornig sein, schafft aber über die Brücke der Neugier den Gang zur Nachdenklichkeit und Sanftmut bis zur Versenkung in poetischer Labsal, welche den Fluss unter der Brücke gibt…“

Was für ein außergewöhnliches Vergnügen: So viele Eselsohren in den Seiten, weil man wieder zurückblättern und nochmal lesen möchte, weil man es wirklich richtig verstehen will, weil man es verstehen muss! Weil es so schöne und ganz und gar menschliche Worte sind, über eine so hässliche und unmenschliche Sache wie – ein Messer.

Heinz Emmenegger: Messer Sieben. Salis Verlag 2013, 180 Seiten, 19,95 €. Auch als eBook für 15,99 € bei ocelot.de erhältlich.

Herzlichen Dank an Anna Hilgenstöhler für die Gastrezension.

2 Kommentare zu „[Gastrezension] Heinz Emmenegger: Messer Sieben

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  1. Hallo,
    eine richtig tolle Rezension, die wirklich neugierig auf das Buch macht.
    Im Mittelteil der Rezi habe ich das Gefühl, dass der Roman eine drückende Atmosphäre kreiert … ist das so? Am Ende wird ja von Vergnügen gesprochen. Für mich ist eine drückende Stimmung manchmal schwer auszuhalten, für manche ist sie jedoch ein Vergnügen, daher meine Frage :)

    LG Nanni

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