„Man kann das nicht erzählen. Sie wärmten sich mit ihren Leibern, die beiden Menschen“
Der Schweizer Autor Jürg Schubiger, der früher als Psychologe gearbeitet hat und vor allem für seine Kinderbücher bekannt ist, erzählt in Nicht schwindelfrei von einem Mann, dem Erinnerungen abhandengekommen sind – und den das gar nicht stört. Die Versehrtheit hat Paul zurückgeworfen auf eine naive, freundliche Kindlichkeit, er sieht sich die Welt an und teilt sie nicht mehr ein in die alten, stupiden Kategorien, er sieht sich die Welt an und freut sich, dass es sie gibt. Seiner Frau gefällt das nicht, sie hätte gern einen Mann, der rundum funktioniert, und sucht ihn sich deshalb woanders. Und es wirkt, als seien auch Pauls Gefühle defekt, denn das verletzt ihn nur am Rande, alles ist ihm entwischt, alles muss er sich neu aneignen, er grübelt, überlegt, beobachtet, betastet: „Für alles stand ein Wort bereit: Frühblüher, Hautflügler, Patientenverfügung. Die Wörter waren schon fertig da, ausnahmslos alle, bevor man überhaupt zu reden anfing. Das Reden brachte sie immerhin ein wenig ins Wackeln.“
Nicht schwindelfrei ist ein Büchlein, ein Geschichtlein. Freilich ist es nicht möglich, auf 112 Seiten einen Charakter so zu beleuchten, dass ich als Leserin ihn kennenlerne mit all seinen Facetten. Das finde ich schade, es hätte mir gefallen, mehr zu erfahren über Paul, Marion und Claire, mehr in die Hände gelegt zu bekommen als nur dieses Mosaikstück. Es bleibt mir überlassen, die Geschichte weiterzudenken in ihren Möglichkeiten, und angeblich schätzen Stammleser dies an Jürg Schubiger, aber ich bin vielleicht denkfaul, ich hätte sie ganz einfach lieber noch weitergelesen. Melancholisch ist diese Erzählung, traurig nicht, eher kindlich-hoffnungsfroh, heruntergebrochen auf das Essenzielle. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Nur zu leben. Einfach so.
Jürg Schubiger: Nicht schwindelfrei. Haymon Verlag 2014, 112 Seiten, 17,90 €. Bei ocelot.de ist das Buch versandkostenfrei erhältlich.