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Yael Pieren: Storchenbiss

»Jetzt setze ich langsam zusammen, wer ich bin«

»Und kommt wieder einmal jemand durch die Tür und fordert mich zur Nähe auf, habe ich keine Angst mehr.« So endet der Kurztext »Das vorgegebene Regelwerk« der jungen Schweizerin Yael Pieren, der in der 36. Ausgabe der BELLA triste abgedruckt ist und mich überhaupt erst auf die Autorin aufmerksam gemacht hat. Einst wurde die Ich-Erzählerin gewaltsam an den Handgelenken festgehalten, wurde versehrt, wurde »verseucht«, nun findet sie allmählich zurück zu sich, zu ihrem Körper, zu den Menschen, die sie umgeben. Die namenlose Figur, die uns gleich zu Beginn von Pierens Debütroman Storchenbiss (Rotpunktverlag, 2012) begegnet, durchläuft ebenfalls einen solchen Prozess der Selbstvergewisserung, auch wenn ihre Wunden ganz anderer Natur sind, tiefer liegen und weiter zurück; weit vor ihrer Geburt. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem Vergangenen, um das, was jetzt ist, zu begreifen und zu bewältigen.

Mir schien, als nehme man immer zu viel von mir. Als denke und entscheide und fühle und urteile man für mich. Jetzt setze ich langsam zusammen, wer ich bin, und verteidige es auch. Es fällt mir nicht mehr schwer, etwas fortzugeben. […] Einen Teil meines Lebens und meiner Geschichte. Wie es wirklich war, könnte ich gar nicht erzählen, nicht ihnen. Ich wäre nur diese Wahrheit für sie. Und noch bin ich nicht viel mehr. […] Es gibt so unendlich viele Möglichkeiten, wer ich sein könnte, und es gibt nur diese eine Tatsache und nur eine Zeitrechnung, in der ich bis jetzt gelebt habe. Vielleicht weil ich so wenig in Zukunftsgedanken gelebt habe, gibt dieses Gestern das Heute nicht her.

Von der jungen Frau erfahren wir nicht viel. Nur, dass eine Beziehung zu Bruch gegangen ist. Dass sie nun in eine neue Wohnung gezogen ist und sich wohlfühlt in deren stiller Leere. Dass manchmal Leute – Freunde sind es nicht – sie besuchen kommen, manchmal auch Männer, mit denen sie flüchtige Begegnungen hat. Näher kommen wir dieser kaum greifbaren Figur vor allem durch das, was vorher war. Was ihrer Mutter widerfahren ist, was ihrem Vater widerfahren ist, was die beiden zusammenführte. Ihre Geschichte ist es, die sich zwischen die der Tochter schiebt, die Kapitel eingeleitet von ironisch gebrochenen Regieanweisungen: »Eine Stadt am Rhein, Uraufführung einer Sonate für neunzehn Finger, die beiden Spieler mit durchgestreckten Rücken auf einer morschen Holzbank, der Komponist wachsam und mit achtlos gebundener Fliege in der ersten Reihe, Spätsommer/Herbst 1960«.

Eine Frau taucht in diesen Stücken auf, eine ehemalige Goldschmiedin, die eines Tages im Streit mit ihrem Ehemann die Treppe hinabstürzt und sich mehrere Finger bricht, einen davon sogar verliert. Mit ihrem Geliebten flieht sie schließlich, lässt die Stadt hinter sich, das Leben, das sie nicht mehr leben konnte, die Frau, die sie einst war und nicht mehr sein konnte. Doch bedeutet diese Flucht kein Glück, das spürt sie schnell in der Lautlosigkeit des Dorfes, in dem sie nun lebt. Bis sie ein paar Jahre später, Mitte der Sechziger, jenen Mann kennenlernt, der ihre Geschichte – im Wechsel mit der Tochter – erzählt. Er ist in das Dorf seiner Kindheit zurückgekehrt, um an der Seite der sterbenden Mutter zu sein. An diesem unliebsamen Ort, in dem der Mann als Kind viel Gewalt erfahren hat und in dem die Frau in der Lethargie versunken ist, finden sie, zwei Einsame, zueinander.

Erst nach und nach begreife ich, dass es sich um die Eltern der Ich-Erzählerin handelt, vieles andere erschließt sich mir erst bei der zweiten Lektüre, manches bleibt mir ganz und gar verborgen. Es hätte dem Roman gutgetan, wenn die Autorin ihren Leser etwas mehr an die Hand genommen hätte. So aber ist das Buch ein bisschen wie sein Umschlag: Ein milchiger Film legt sich über die Geschichte, verzerrt sie, lässt mich nur noch Schemen erkennen, mich nicht zu ihr durchdringen. Ich ahne, darunter verbirgt sich etwas Besonderes, Schönes und Kluges, doch im Gegensatz zum transparenten Umschlag kann ich diesen Film nicht einfach abnehmen. Vielleicht ist es eine jener Geschichten, die man wieder und wieder lesen muss, damit sie sich einem öffnet, deren Zeilen man mit dem Finger entlangfahren muss, um den Sinn zwischen ihnen zu finden.

Vielleicht geht es aber auch gar nicht darum, den Text Wort für Wort zu erfassen, sondern darum, sich ihm hinzugeben – was vor allem bedeutet: sich der eigensinnig rhythmisierten, wogenden Sprache hinzugeben. Behutsam bettet Yael Pieren die Figuren auf einem Klangteppich und dämpft so ein bisschen die Wucht ihres Schmerzes, fast fühlt es sich an, als wäre alles in Watte gepackt. Wer mag, kann sich aber auch der Gestaltung des Buches hingeben, für die der Rotpunktverlag ein besonderes Lob verdient: Vom Lesebändchen zum Satz ist jedes Detail stimmig, allein der raffinierte Einband mit aufgedrucktem Fotomotiv und transparentem Schutzumschlag ist ein Blickfang. So ist Storchenbiss vor allem haptisch und visuell eine Freude und mag manchen Leser, der angesichts der herausfordernden Lektüre etwas ermattet ist, versöhnen.

Yael Pieren: Storchenbiss. Rotpunktverlag, Zürich 2012, 175 Seiten, 19,90 €. Auch als eBook für 16,99 € bei ocelot.de erhältlich.

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Die Rezension ist zuerst auf SchöneSeiten erschienen.