Sieben Kleinkinder auf einem Piratenschiff. Das bietet Stoff für einen Abenteuerroman für die Ecke mit den Jugendbüchern, oder für eine komischironische Satire auf das Piratengenre für Erwachsene. Hughes wählt einen anderen Weg, einen ganz eigenwilligen. Denn: Sind das überhaupt „richtige“ Piraten in dem Roman? Glaubt man dem Erzähler, dann haben sie nichts mit dem blutrünstigen, groben (beizeiten romantisierten) Pirat gemeinsam, außer dem ausufernden Konsum von Rum, und dass sie hin und wieder den Versuch unternehmen, Schiffe zu kapern. Hughes‘ Piratenschiff verfügt über keine Kanonen, ein richtiger Mord ist an seinem Deck noch nie begangen worden. Kinderbuchpiraten mit schrecklichem Äußeren und weichem Kern sind sie aber trotzdem nicht, denn ein paar unerwartet blutige Wendungen nimmt die Geschichte um diese Crew doch.
Auch darf man dem Erzähler nicht ganz trauen – scheinbar allwissend, tritt er doch manchmal vor und äußert seine Zweifel darüber, ob sein Gedächtnis ihn nicht täuscht oder ob er überhaupt fähig ist, das Geschehen der Wahrheit entsprechend wiederzugeben. Er versucht, die Tage auf dem Piratenschiff aus der Perspektive der Kinder zu beschreiben, und die Kinder nehmen bekanntlich alles anders wahr als Erwachsene. Immer wieder kreist die Handlung um die Themen der unterschiedlichen Perspektiven, der Einschätzung eines Erlebnisses in Abhängigkeit von dem, was man zu erleben erwartet. Zuerst wissen die Kinder nichts davon, dass ihre neuen Bekannten Piraten sind – als sie davon erfahren, verändert sich auch ihr Umgang mit ihnen, weil sieb estimmte Vorstellungen von Piraten haben. Und später werden die Kinder sich unter gewissen Umständen an das erinnern, was nie vorgefallen ist.
Menschliche Erinnerungen sind fluid. Woran wollen wir uns erinnern? Und was wird von uns erwartet? Wenn Erwachsenen zu wissen meinen, was für Gräueltaten die Kinder bei den Seeräubern miterlebt haben, bestätigen die Kinder diese bereitwillig, um die Erwachsenen nicht zu enttäuschen. Sie lügen nicht, selbst wenn diese Gräueltaten nicht passiert sind, im Gedächtnis der Kinder werden sie zur Wahrheit. Lügen, Imagination, Erwartung verschmelzen, Fiktion und Tatsachen auch. Der Erzähler sieht das alles nicht so eng, bei ihm heißt es: „Häufig lässt sich die Wahrheit nur darstellen, indem man sie wie ein Kartenhaus aus einem Stapel Lügen konstruiert.“
Hughes schneidet in seinem Werk vieles an: die Krise auf Jamaika nach der Abschaffung der Sklaverei, die gesellschaftlichen Verhältnisse um Frauen und Männer, Engländer und Schwarze, die Piraterie und Schildkröten und Kinderpsyche, Entwicklungspsychologie und das Justizsystem. Dass der Roman ursprünglich 1929 veröffentlicht wurde, überrascht – man merkt ihm das nicht an, womöglich ist das auch der neuen Übersetzung verschuldet. Was bleibt nach dem Lesen für ein Gefühl, wenn so viele Themen angerissen werden, die jedes für sich Wälzer füllen könnten? Weiß ich nicht. Mir hat das Buch gefallen, es hat mich zum Nachdenken und sogar zum Umdenken gebracht, und das schätze ich an Büchern. Wer ein rasantes Piratenabenteuer erwartet oder eine zuckersüße Geschichte darüber, wie sieben Kinder robuste Männerherzen auftauen, wird hier nicht auf seine Kosten kommen, soviel steht fest. Der Roman ist nicht leicht einzuordnen, abzustempeln oder zu beschreiben; und genau das scheint mit ein guter Grund, sich dieses Buch mal vorzuknöpfen!
Richard Hughes: Orkan über Jamaika. Aus dem Englischen von Michael Walter. Dörlemann Verlag 2013, 290 Seiten, 19,90 €.
Herzlichen Dank an Ksenia Gorbunova für die Gastrezension!