Ein Edelstein von Buch.
Sabine Kray hatte nach dem Studium die Wahl: Entweder zu promovieren oder die Wahrheit über ihren Großvater herauszufinden. Sie entschied sich für Diamanten Eddie, wie ihr Großvater genannt wurde. Die Familie hat nur wenig über ihn gesprochen. So begab sich die junge Autorin auf Spurensuche und schrieb seine Lebensgeschichte auf. Entstanden ist ein opulentes Werk von über 700 Seiten, in das ich eingetaucht bin.
Der Einstieg ist eine sanfte und leicht komische Landung für mich. Mit dem Ruf nach einem Staubsauger fängt alles an. Edwards Brillanten sind auf dem Boden eines Nachtlokals gefallen. Und die will er nun wieder auflesen. „Mit einem Mal ist es in dem engen Clubraum hell wie zur Sperrstunde.“ Der Staubsauger verrichtet seinen Dienst, so dass Edward kurze Zeit später wieder im Besitz seiner Schätze ist, obwohl noch jede Menge Staub dazwischen hängt, aber egal. Mit einem Glas Whisky zu Hause ist das Unglück schnell Vergangenheit. Vergangenheit. Ein Wort, das in diesem Buch eine ganz eigene, bedrückende Stellung einnimmt. Edwards Vergangenheit ist zappenduster wie eine mondlose wolkenverhangene Nacht. Auf die treffe ich im nächsten Kapitel.
Die Zeit läuft zurück und ich befinde mich im Jahr 1939, im polnischen Zamosc. Es herrscht Krieg und die Angst ist allgegenwärtig. „Sie drang durch die feinen Löcher des Radios ins Haus, schlich durch die Räume, und sie schlief in ihren Betten. Doch niemand sprach darüber, wie es weitergehen würde, wenn die deutschen Truppen Zamosc erreichten.“ Edwards älterer Bruder ist vor zwei Wochen in den Krieg gezogen und Edward nimmt die Rolle des großen Bruders ein. Er beruhigt seinen neunjährigen Bruder, der nicht schlafen kann. Was ich an dieser Stelle noch nicht weiß, Edward, der selbst noch ein Kind ist, wird kurz darauf aus seiner Kindheit gerissen.
An dem Tag, als er durch einen Fliegerangriff Mutter, Schwester und Bruder verliert. Sein Vater erleidet danach einen Schlaganfall und Edward ist plötzlich ganz allein auf sich gestellt. Und hier beginnt das Grauen, das hundert Seiten anhält. Weil er Zigeuner bei sich im leeren Haus aufgenommen hat, wird Edward verhaftet und in Straflager gesperrt. Diese Passagen führen mich an meine eigenen Grenzen. Nicht auszuhalten sind die Kälte, der Hunger und vor allem die menschenunwürdigen Verhältnisse, die in den Lagern herrschen. Oft muss ich das Buch an die Seite legen, weil ich das Grauen nicht ertragen kann. Wie ein Hammerschlag hauen sie an mein Innerstes und ich frage mich: Wie können Menschen so brutal sein? Und schlimmer noch: Wie kann ein Mensch nur so viel Leid ertragen? Ein Junge noch, nicht mal Achtzehn, wird Edward den schlimmsten Qualen des Lebens ausgesetzt. Und ich leide mit ihm. Sabine Kray holt mich ganz nah heran, sie schreibt authentisch, alles fühlt sich echt an. Keine Fiktion, harte Realität. Das tut weh. Muss es, ich weiß, und dennoch habe ich das Gefühl, nasse Kleidung zu tragen. Ich fröstele.
Kleine Atempausen verschaffen mir die Schlenker in Eddies Räuberjahre. Sie beginnen 1945, direkt nach dem Krieg. Als Zigarettenschmuggler fängt er an. Bald schon plant er fein ausgeklügelt die Raubzüge und verrichtet mit klugem Kopf seine Arbeit. Voller Neugier und mit großer Spannung beobachte ich ihn, wie er beim Kartenspielen trickst oder beispielsweise des Nachts in ein Kaufhaus einbricht und wertvolle Uhren klaut, während draußen die Wachmänner ihre Runden drehen. Eddie ist kein gewöhnlicher Räuber, er ist menschlich, nie gewalttätig und ich bin ganz bei ihm.
Mit leichter Feder, ohne Pathos, hat Sabine Kray die Lebensgeschichte ihres Großvaters aufgeschrieben, und sie hat ihm damit ein ehrwürdiges Denkmal gesetzt. Würde er noch leben, er würde mit ihr ganz bestimmt seinen Whisky trinken und ihr auf die Schulter klopfen. In diesem Buch steckt viel Arbeit, das merke ich mit jeder Seite. Die junge Autorin hat mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen, sich hunderte Videoaufnahmen von Überlebenden aus Straflagern angeschaut, in Archiven recherchiert, mit Zeitzeugen, Barmännern, Berufsverbrechern, Polizisten und Zeitzeugen gesprochen, die Geschichten um den Pelz- und Diamantenräuber und Spielbetrüger eingesammelt. Damit hat sie nicht nur einen Teil der eigenen Familiengeschichte niedergeschrieben. Es ist ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte entstanden. Vor allem die Kriegsberichte bleiben mir prägend in Erinnerung. Sie zeigen, dass ein Menschen beides umschließt, sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit. Würde ich anders über Diamanten Eddie denken, wenn er nicht so viel Leid hätte durchleben müssen? Diese Frage möchte ich nicht beantworten, weil Sabine Kray mir vor Augen geführt hat, dass stets zwei Seiten der Medaille dazugehören. Auch wenn die Berlinerin nun keinen Doktortitel trägt, hat sie sich diesen verdient, den Titel der besten Enkelin, die man sich vorstellen kann. Ihre Neugier hat sie zu einem Lebenswerk geführt, vor dem ich mich nur verneigen kann.
Mit dem Buch ist an dieser Stelle Schluss, doch mit Sabine Kray geht es am Freitag weiter. Dann kommt die Autorin im Interview zu Wort.
Sabine Kray: Diamanten Eddie. Frankfurter Verlagsanstalt 2014, 699 Seiten, 24,90 €. Ihr wollt das Buch jetzt haben? Dann könnt ihr es direkt und portofrei hier bei ocelot.de bestellen oder das eBook für 16,99 € downloaden.
Auf die „zu lesen Liste “ gesetzt .Danke für die neugierig machende Buchbesprechung. LG Xeniana
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Hat dies auf Lust zu Lesen rebloggt und kommentierte:
„Diamanten Eddie“ wurde heute im WDR 2 vorgestellt – da verweise ich gerne auch auf diese Rezension.
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